Systematische Theologie

Rochus Leonhardt

Der vorliegende Beitrag reflektiert die Systematische Theologie komplementär zu den entsprechenden Ausführungen von Christine Axt-Piscalar. Mit einer Untersuchung zum Begriff der Systematischen Theologie thematisiert er zunächst die Aufgabe der Systematischen Theologie als Ganzer. Anschließend wird die Binnenstruktur dieser theologischen Disziplin erörtert, also nach dem Zusammenhang der zu ihr gehörenden Unterdisziplinen gefragt. Den Ausgangspunkt der beiden Hauptkapitel bildet jeweils ein Blick auf die wissenschaftsorganisatorischen Bedingungen, in denen sich die Systematische Theologie in Deutschland gegenwärtig bewegt.

I. Zum Begriff der Systematischen Theologie

Grundsätzlich ist festzuhalten: Wenn heute, jedenfalls an evangelisch-theologischen Instituten oder Fakultäten deutscher Universitäten, von 'Systematischer Theologie' die Rede ist, dann wird darunter eine Teildisziplin der (Evangelischen) Theologie verstanden.

Ausgehend von dieser Feststellung ist der Begriff der Systematischen Theologie im Folgenden in zweifacher Weise zu profilieren. Zunächst ist zu klären, was mit dem Stichwort 'systematisch' gemeint ist; dadurch soll deutlich werden, worin das Spezifikum der Systematischen Theologie im Rahmen des Gesamtspektrums der theologischen Fächer besteht. Eine weitere Überlegung bedenkt die Frage, was mit dem Stichwort 'Theologie' gemeint ist. Damit kommt der Gegenstand (systematisch-) theologischer Reflexion in den Blick, aus dessen sachgerechter Bestimmung sich bereits Kriterien für die Beschreibung der Binnenstruktur der Systematischen Theologie ergeben.

I. 1. Systematische Theologie als theologische Teildisziplin

Bei der Frage nach der Einordnung der Systematischen Theologie in das Ensemble der theologischen Fächer handelt es sich um einen Teilaspekt eines umfassenderen Problems. Gemeint ist die Frage nach dem Verhältnis aller theologischen Einzelfächer untereinander, also nach der inneren Gliederung der wissenschaftlich betriebenen Theologie als Ganzer - und damit zugleich nach der ihrer Disziplinenvielfalt zugrunde liegenden Einheit. Die Bemühungen um eine Behandlung dieser gewöhnlich unter dem Titel einer 'Theologischen Enzyklopädie' verhandelten Frage spiegeln freilich eher "das Problembewußtsein als den gelungenen Versuch, die einzelnen Disziplinen aus dem Wesen der Theologie syst. zu entwickeln" (Fischer 1986, 1048; vgl. aber Deuser 1999, 177-184 sowie Stock 2002).

Das erwähnte Problembewusstsein ist ein Symptom dafür, dass die traditionelle Auffassung vom harmonischen Zusammenwirken der einzelnen theologischen Disziplinen nicht mehr ungebrochen als tragfähig empfunden wird. Während danach die Systematische Theologie - mit dem von Horst G. Pöhlmann (1973, 24-26; 2002, 37-40) unermüdlich kolportierten Bild - als "Transmissionsriemen" zwischen den exegetisch-historischen Fächern und der Praktischen Theologie aufgefasst wurde, ist die gegenwärtige Realität von Forschung und Lehre in der wissenschaftlichen Theologie eher von einem unverbundenen Nebeneinander der verschiedenen Einzeldisziplinen geprägt als davon, dass die Systematische Theologie die in Bibelwissenschaften und Kirchengeschichte erarbeiteten Kenntnisse aufnimmt, bündelt und im Blick auf die Reflexion von Bedingungen und Vollzug der Glaubenskommunikation weitergibt, die dann von der Praktischen Theologie geleistet wird.

Um der so skizzierten Situation gerecht zu werden, soll das Stichwort 'systematisch' im Folgenden - unbeschadet der didaktischen und "antidogmatischen" Wurzeln seiner theologischen Terminologie (Sauter 1982, 53,46-55,26) - in Gegenüberstellung zum Stichwort 'historisch' profiliert werden. Dies geschieht im Rekurs auf den wissenschaftstheoretischen Sprachgebrauch:

"Die historischen Wissenschaften beschäftigen sich mit Gegenständen, die nur in einer bestimmten historischen Ausprägung existieren und daher überhaupt nicht anders als historisch studiert werden können. … Eine ganz andere Fragestellung verfolgen jedoch die systematischen Wissenschaften. Sie gehen nicht von zu interpretierenden historischen Zeugnissen aus, sondern von einem jeweils aktuellen Problemzusammenhang, der immer auf die Form oder Formulierung gebracht werden soll, die der jeweiligen Gegenwart am angemessensten und richtigsten erscheint. …

In der Einleitung der 'Kritik der reinen Vernunft' findet man die berühmte Behauptung KANTS, es gebe 'synthetische Urteile a priori' … Der historisch denkende Philosoph nimmt nun KANTS Behauptung für bare Münze. Er stellt nicht ihren Wahrheitsgehalt in Frage, sondern bemüht sich lediglich, ihren gemeinten Sinn zu erfassen. … Ganz anders der systematisch denkende Philosoph … KANT wird hier aus der pietätvoll konservierenden historischen Atmosphäre erbarmungslos in die Ebene gegenwärtiger systematischer Auseinandersetzung gezogen. … man scheut sich nicht, schlankweg zu behaupten, KANT sei logisch und mathematisch ungenügend informiert gewesen, erreiche also den Stand heutiger Einsicht in diese Dinge nicht" (Seiffert 1989, 140f).

Die hier wiedergegebene Differenzierung - so schwierig es ist, sie unmittelbar auf den theologischen Fächerkanon zu übertragen - ist in zweifacher Hinsicht hilfreich. Sie kann (1) zunächst das oben notierte Problem einer gegenwärtigen theologischen Enzyklopädie zu erklären helfen: Mit der Verselbständigung der historischen Disziplinen der Theologie in der Neuzeit ist deren Beschränkung auf die Genese der untersuchten Gegenstände verbunden; sie gehen von der Bibel und den Zeugnissen der Kirchengeschichte als "von zu interpretierenden historischen Zeugnissen aus" und bemühen sich, "ihren gemeinten Sinn zu erfassen". Die Frage nach der Geltung (resp. der Gegenwartsrelevanz der biblischen Texte oder der etwaigen 'überhistorischen' Normativität einer bestimmten Ausprägung christlichen Lebens und Denkens) ist damit nicht nur noch nicht entschieden, sondern noch nicht einmal thematisiert. Und weil sich aus der sachgerechten Erfassung des ursprünglich gemeinten Sinns überlieferter Zeugnisse eben keine Kriterien für deren Relevanz in "der jeweiligen Gegenwart" ergeben, muss die Systematische Theologie den historischen Zugriff überschreiten und die Traditionsbestände des christlichen Glaubens aus der - mehr oder weniger - "pietätvoll konservierenden historischen Atmosphäre" lösen, in der sie von den historischen Disziplinen gepflegt werden. Systematische Theologie kann also nicht nahtlos an die Arbeit der historischen Fächer anknüpfen, sondern muss deren Gegenstände in nichthistorischer (eben: systematischer) Perspektive befragen.

Rückblickend ist freilich festzuhalten, dass jenes Auseinanderdriften der historischen Disziplinen und der Systematischen Theologie, das zum oben diagnostizierten unverbundenen Nebeneinander der verschiedenen Einzelfächer geführt hat, das nichtintendierte Ergebnis eines ganz anders motivierten Prozesses war. So war etwa die Verselbständigung der Bibelwissenschaften zunächst gerade von dem Interesse an der Freilegung eines soliden und zuverlässigen Fundaments sachgerechter theologischer Lehrbildung geleitet. Dies gilt im Prinzip schon für die (lehramts- und traditionskritische) Erhebung der Heiligen Schrift zum letztgültigen Maßstab kirchlicher Verkündigung, wie sie Martin Luther im Reformationsjahrhundert vollzogen hat (vgl. Leonhardt 2003, 145-175). Und dies gilt in besonderer Weise für die (nun dogmenkritische) Trennung von biblischer und dogmatischer Theologie, wie sie Johann Philipp Gabler im Aufklärungsjahrhundert programmatisch formulierte und der Wissenschaftskultur protestantischer Theologie maßgeblich aufgeprägte: "Dogmatik muss von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen" (Gabler 1790, XV; vgl. Leonhardt 2003, 203-225). Erst der Historismus hat den Versuch einer Gewinnung überhistorisch geltender Wahrheiten mit historischen Mitteln als illusionär erwiesen. Ernst Troeltsch (1865-1923) hat einschlägig gezeigt, dass der historisch-genetische Zugriff unvermeidbar zur Irritation von Geltungsansprüchen führt. Denn wo mit der historischen Methode wirklich ernst gemacht wird, erweist sich schließlich, dass die "Herausschälung irgend eines nicht der Historie angehörenden Kerns unmöglich ist" (Troeltsch 1898, 737).

Wenn nun - ungeachtet der gerade notierten Differenz zwischen Intention und Ergebnis - die Unterscheidung historisch / systematisch als unhintergehbar ernst genommen werden soll (und eben dies ist hier beabsichtigt), dann ergibt sich daraus (2) weiterhin, dass die Systematische Theologie als systematische zwar in der Tat die Gegenwartsrelevanz des christlichen Glaubens zu reflektieren hat - sie sucht also nach der "Form oder Formulierung" des christlichen Glaubens, "die der jeweiligen Gegenwart am angemessensten und richtigsten erscheint" -; aber weil sie dies "auf dem Boden des biblischen Zeugnisses und im Horizont der (kirchen-)geschichtlichen Tradition" tut (Fischer 2002, 305), weil sie also unvermeidbar 'traditionsverwiesen' agiert, muss sie jene grundsätzliche Irritation stets mitreflektieren, der die den Glauben fundierenden Ereignisse, Dokumente und Traditionen bezüglich ihrer Geltung durch den historisch-genetischen Zugriff ausgesetzt sind.

Dies bedeutet dreierlei. Es bedeutet erstens, dass die Systematische Theologie ihr Verwiesensein an die biblischen Texte nicht durch den schlichten Rekurs auf deren vermeintliche Autorität realisieren kann; vielmehr muss eine ausdrückliche Offenlegung der Kriterien hinzukommen, an denen sich die je eigene Schriftrezeption und die davon abhängige theologische Urteilsbildung orientieren (Leonhardt/Rösel 2000, 317ff).

Es bedeutet zweitens, dass die Systematische Theologie, wenn sie der Gegenwartsrelevanz des christlichen Glaubens auf dem Boden des biblischen Zeugnisses nachspürt, zwar prinzipiell an die Einsichten ihrer historischen Nachbardisziplinen gewiesen ist, aber nicht genötigt werden kann, die Ergebnisse historisch-kritischer Detailarbeit an den biblischen Texten umfassend zu integrieren. Die oben zitierte Formulierung vom Ende des 18. Jahrhunderts ("Dogmatik muss von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen.") hat sich angesichts gegenwärtiger Unübersichtlichkeiten in der exegetischen Diskussion als vielleicht wünschenswerte, faktisch aber illusionäre Forderung erwiesen.

Die mitlaufende Reflexion der mit der historischen Methode gesetzten Irritation bedeutet drittens, dass auch die Systematische Theologie ihrerseits auf eine inhaltliche Normierung der exegetischen Forschung zu verzichten hat. Diese Feststellung bezieht sich kritisch auf den namentlich von Wolfhart Pannenberg ausgearbeiteten Vorschlag, das "Dilemma zwischen historisierender Entleerung des theologischen Gehaltes und historisch gewaltsamer 'theologischer' Deutung" dadurch zu überwinden, dass sich "die historische Methodik der Schriftexegese … von vornherein im Rahmen einer theologisch orientierten Religionsgeschichte im Sinne einer Theologie der Religionen bewegt" (1973, 381; vgl. auch den ganzen Zusammenhang 349-442).

Abgesehen von den Akzeptanzproblemen dieses Vorschlags innerhalb der Theologie selbst und den Vermittlungsproblemen eines i mmer schon theologisch imprägnierten Zugriffs auf religionsgeschichtliche Phänomene nach außen hängt Pannenbergs Ansatz an der problematischen Voraussetzung, die "theologische Dimension eines historischen Phänomens" könne "an diesem selbst" aufgedeckt werden (a.a.O., 352). Dagegen gilt: Die in dieser Voraussetzung implizierte "Behauptung, daß das Geschehen von sich aus und durch sich selbst bedeutungsträchtig sei, überspringt die im Sein der Personen und ihrer Individualität liegenden Bedingungen für die Konstitution von Bedeutung" (Herms 1995, 199,5-8).

I. 2. Der Gegenstand der (Systematischen) Theologie

Die Frage nach dem Gegenstand der (Systematischen) Theologie soll hier ausgehend von der Frage nach der Bedeutung des Wortes 'Theologie' behandelt werden, genauer: ausgehend von der Frage nach der Bedeutung dieses Wortes im Kontext des christlichen Glaubens.

Wörtlich übersetzt und im Sinne des klassischen griechischen Sprachgebrauchs heißt Theologie 'Lehre von Gott' (gr. theos; vgl. Hall 2002, 272,34-42) - analog z.B. zur Biologie als der 'Lehre vom Leben' (gr. bios). Bei der Theologie handelt es sich also um eine menschliche Erkenntnisbemühung, die Gott zum Gegenstand hat. Dabei ist von Bedeutung, dass die durch theologisches Nachdenken gewonnenen Erkenntnisse Anspruch auf allgemeine Plausibilität und mithin Wissenschaftlichkeit erheben.

Nach antikem Verständnis ist es nun die Philosophie, die diesem Anspruch in besonderer Weise gerecht wird. Die Theologie als wissenschaftliche "Lehre von Gott" war deshalb zunächst eine philosophische Disziplin, die sich mit der Frage nach der Eigenart des göttlichen Urprinzips beschäftigte.

Das antike und mittelalterliche christliche Denken hat durchweg einerseits an die philosophische Theologie angeknüpft; es hat den biblischen Gottesbegriff zunächst mit der mittel- bzw. neuplatonischen, später (ab dem 12./13. Jahrhundert) mit der aristotelischen Philosophie verbunden. Dies war ohne große Probleme möglich, ließen sich doch die schon seit der vorplatonischen Tradition herausgearbeiteten Gottesprädikate (Einheit, Geistigkeit, anfangslose Ewigkeit u.a.) gut mit dem biblischen Gottesgedanken verbinden.

Andererseits betrachteten die Christen die vernunftbasierte philosophische Theologie als überboten durch die offenbarungsgestützte (in der Bibel enthaltene) christliche Botschaft, die um des Heils der Menschen willen der philosophischen Gotteserkenntnis hinzugefügt werden musste. Auf dem Höhepunkt des mittelalterlichen Aristotelismus hat Thomas von Aquin (1224/25-1274) diesen Zusammenhang im ersten Artikel seines theologischen Hauptwerks exemplarisch zum Ausdruck gebracht:

"Das Heil der Menschen verlangt außer den philosophischen Wissenschaften, die im Bereich der menschlichen Vernunft bleiben, eine Lehre, die auf göttlicher Offenbarung beruht. Zunächst deshalb, weil Gott den Menschen für ein Ziel bestimmt hat, das die Fassungskraft der Vernunft übersteigt. Jes 64,4: "Außer dir hat kein Auge gesehen, was du, o Gott, denen bereitet hast, die dich lieben." Das Ziel aber muss dem Menschen vorher bekannt sein, wenn er sein Wollen und Handeln darauf einstellen soll. Darum mussten dem Menschen, sollte er sein Heil nicht verfehlen, durch göttliche Offenbarung manche Dinge kund werden, die über die menschliche Vernunft hinausgehen" (Summa Theologiae I 1,1 [lat. Text]).

Sofern nun die von Thomas als "heilige Lehre" (sacra doctrina) bezeichnete christliche (= auf dem biblischen Offenbarungszeugnis beruhende) Gotteslehre die bereits auf philosophischem Wege (= durch Vernunfterkenntnis) erreichte Einsicht in Wesen und Willen Gottes überbietet bzw. korrigiert und in jedem Fall vervollkommnet, haben christliche und philosophische Theologie denselben Gegenstand, nämlich Gott:

"Gott ist Gegenstand dieser Wissenschaft. ... In der heiligen Lehre ist Gott der einigende Leitgedanke, von dem alles beherrscht wird; und zwar handelt es sich entweder um Gott selbst oder um die Dinge, sofern sie Beziehung haben zu Gott als zu ihrem Ursprung und zu ihrem Ziel. Also ist tatsächlich Gott Gegenstand (subiectum) dieser Wissenschaft" (Summa Theologiae I 1,7 [lat. Text]).

Die reformatorische Theologie hat die Heilsrelevanz des christlichen Glaubens in bis dahin so nicht artikulierter Intensität eingeschärft. Während der auch bei Thomas hervorgehobene Bezug der christlichen Botschaft auf das Heil des Menschen nicht dazu führt, dass die "heilige Lehre" einen anderen Gegenstand zu traktieren hat als die philosophische Theologie, schlägt im reformatorischen Denken, namentlich bei Martin Luther (1483-1546), der Heilsbezug unmittelbar auf die Gegenstandsbestimmung der Theologie durch. Nicht mehr (nur) Gott gilt als Gegenstand (subiectum) der Theologie, sondern weil es konkret um den "rechtfertigenden Gott" in seinem Bezug zum heilsbedürftigen, weil "schuldigen und verlorenen Menschen" geht, sind nun im eigentlichen Sinne (proprie) Gott und Mensch - vergleichbar zwei Brennpunkten einer Ellipse - Gegenstand der Theologie (subiectum Theologiae):

"Die Erkenntnis Gottes und des Menschen ist die göttliche und im eigentlichen Sinne theologische Weisheit. Und wie die Erkenntnis Gottes und des Menschen schließlich bezogen wird auf den rechtfertigenden Gott und den Menschen als einen Sünder, so sind der schuldige und verlorene Mensch und Gott als der rechtfertigende und als Erlöser im eigentlichen Sinne Gegenstand der Theologie" (Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica. Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator (Luther 1538, 327f) ).

Diese 'Existentialisierung' des christlichen Denkens in der reformatorischen Theologie, die Fokussierung des Blicks auf Gott in seiner Heilsbedeutung für den Menschen, hat schließlich zu einer Veränderung bei der Bestimmung des Gegenstands der (Systematischen) Theologie geführt, die für den Protestantismus bis heute einschlägig ist.

Die zu dieser Veränderung führende theologiegeschichtliche Genese ist hier nicht im Detail nachzuzeichnen, es sei lediglich auf einige Aspekte verwiesen.

a.

Die gegenüber Thomas von Aquin soteriologisch zugespitzte Bestimmung des "subiectum Theologiae" durch Luther hat den Reformator auch zu einer Kritik der philosophischen Theologie veranlasst, genauer: zu einer Bestreitung ihrer Relevanz in Heilsfragen. Die ältere Theologie hatte den (monotheistischen) Gottesgedanken der philosophischen Theologie als Verbündeten im Kampf gegen den heidnisch-götzendienerischen Polytheismus und als Ansatzpunkt für die christliche Verkündigung wahrgenommen; daher konnte sie ihn als Station auf dem Weg zur Wahrheit begreifen. Doch Luther vermochte darin gerade keine wirkliche Überwindung, sondern nur eine weitere Spielart des Götzendienstes zu erkennen (vgl. Leonhardt 2004, 80-86). Ein in menschlichen Erkenntnisbemühungen wurzelnder Gottesbegriff trägt nach Luther unweigerlich die Signatur jener Sünde an sich, der seit Adams Ungehorsam im Paradies alle Menschen verfallen sind. Wahre Gotteserkenntnis - und damit wahre Theologie - ist deshalb nach Luther nur von Christus her möglich, genauer: vom Kreuz Christi her, an dem die 'Erwartungshaltung' menschlicher philosophischer Theologie enttäuscht wird, weil das Kreuz gerade nicht die Macht, sondern die Ohnmacht Gottes offenbart (vgl. dazu Althaus 1962, 34-42).
 

b.

Der Kritik einer rational-philosophischen und insofern nicht zwingend existentiell relevanten Lehre über Gott entspricht auf der Ebene des Glaubensverständnisses Luthers theologische Diskreditierung all jener Spielarten des Glaubens, die nicht ausschließlich im Vertrauen in die Heilsmacht des Christusgeschehens bestehen, also im Vertrauen auf die in Christus 'greifbare' Zuwendung Gottes zum Menschen, die jederzeit unbedingt ist, also weder von menschlichen 'Vorleistungen' abhängt, noch durch 'gute Werke' ergänzt werden muss; Luther spricht vom "Christus ergreifenden Glauben" (fides apprehensiva Christi). Erst dieses - dem Menschen unverfügbare - Vertrauen kann wahrhaft 'Glaube' genannt werden. Eine - dem Menschen jederzeit verfügbare - neutrale Kenntnis biblisch-theologischer Sachverhalte hat dagegen keinerlei Heilsbedeutung (gegen den scholastischen Begriff der fides historica oder fides acquisita). Und nur dieses Vertrauen kann wahrhaft 'Glaube' genannt werden. Es gewinnt seine Heilsbedeutung also nicht erst in Verbindung mit entsprechenden Werken der Liebe (gegen den scholastischen Begriff der fides caritate formata; vgl. zum Ganzen: Leonhardt 2004, 91-97, zum Problem der 'guten Werke': Bayer, 2003, 256-264).
 

c.

Weil nur der Glaube rechtfertigt (bzw. heilsrelevant ist), mittels dessen sich der je Einzelne auf Christus bezieht, gerät angesichts von "Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens" (vgl. U. Barth 1992) die kirchliche Heilsvermittlung in eine der individuellen Heilsaneignung gegenüber prinzipiell nachgeordnete Position. Diese Konstellation findet in Luthers Kritik an "Menschenlehre" in geistlichen Belangen einen unzweideutigen Ausdruck. Diese Kritik trifft all jene Lehren und Praktiken der Kirche, die die im Rechtfertigungsglauben erfahrene Freiheit und den entsprechenden Gewissenstrost durch eine lehramtliche Domestikation des geistlichen Lebens zu beeinträchtigen geeignet sein können. Im Blick waren für Luther, namentlich in seiner Schrift von 1522, die kirchlichen Fastenvorschriften sowie die Ordensregeln. "So lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats" (Kol 2,16): Diese Aussage bezieht Luther, "obwohl das von den Juden gesagt ist," auf "des Papstes und der Mönche Satzung" (Luther 1522: Luther deutsch 4, 32). Wer sich daran orientiert, "hält sich nicht an das Haupt" (Kol 2,19), nämlich an Christus. Nach Luther aber ist es

"unmöglich daß Menschenlehre und Christus eins sein sollten; es muß eines das andere aufheben. Tröstet sich das Gewissen auf Christus, so muß der Trost auf Werk und Lehre hinfallen. Tröstet sich's auf Werk, so muß Christus hinfallen. Es mag und kann sich das Herz nicht auf zweierlei Grund bauen; einer muß verlassen werden" (Luther 1522: Luther deutsch 4, 33f).
 

d.

Die skizzierte Polemik Luthers gegen solche Menschenlehre, die das christliche Gewissen in die Knechtschaft des Gesetzes zurückdrängt, konnte seit der theologischen Aufklärung im deutschen Protestantismus auch in eine Kritik an den lehrmäßigen Festsetzungen der evangelischen Bekenntnisschriften transformiert werden (vgl. zu den Bekenntnisschriften: Leonhardt 2004, 40-44; vgl. zu den Einzelheiten der nachfolgend angedeuteten theologiegeschichtlichen Zusammenhänge: Hirsch 1964, Band 4; Band 5, 1-430). Die von Luther in Anspruch genommene Freiheit zu kritischer Prüfung der kirchlichen Lehre auf biblischer Basis wurde in der deutschen evangelischen Theologie seit etwa 1750 sowohl auf die in die protestantischen Bekenntnisse übernommenen altkirchlichen Dogmen als auch auf die aus der evangelischen Bekenntnisbildung hervorgegangenen kirchlichen Lehraussagen angewandt. Die Verbindlichmachung bestimmter theologischer Lehren, die in schriftlich fixierten Bekenntnistexten enthalten sind, galt vielfach als katholisierender Rückfall hinter die in der Reformation errungene christliche Freiheit (vgl. exemplarisch Johann Philipp Gabler: Leonhardt 2003, 206-212). Man befürchtete erneut eine Entkopplung von theologischer Lehre und religiöser Erfahrung und eine institutionell abgesicherte Bevormundung individueller Religiosität - dieses Mal unter protestantischem Vorzeichen.

Als eindrücklicher Beleg für diese Befürchtung kann eine durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) in seiner am 20. Juni 1830 gehaltenen Predigt ausgesprochene Warnung gelten. Im Anschluss an I Kor 7,23 ("Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte") schärft er ein, dass bei den am 25. Juni desselben Jahres anstehenden Feiern zum 400. Jahrestag der Übergabe der Confessio Augustana auf die Vermeidung eines Rückfall in die Knechtschaft des Buchstabens dieser Bekenntnisschrift zu achten sei:

"gesezt nun, wir wären von dieser [durch Paulus in I Kor 7,23 kritisierten] Knechtschaft todter Werke urückgekommen, wir ließen diese auch nicht wieder aufleben, aber wir ließen uns auflegen ein Joch todter Worte und eines todten Glaubens, wir ließen uns binden von einem der da sagte, so nur und nur so muß über dieses geredet werden …; das wäre nicht eine mindergefährliche, ja ich muß es gerade heraussagen, eine schlimmere Knechtschaft als jene" (Schleiermacher 1830, 20).

Die sich aus den angeführten Zusammenhängen ergebende Spezifik des Gegenstands einer im Horizont protestantischen Denkens verorteten (Systematischen) Theologie lässt sich folgendermaßen beschreiben:

- [negativ:] Während die ältere Tradition Gott selbst bzw. die von ihm durch Offenbarung bekannt gemachten Glaubenswahrheiten als Gegenstand der Theologie betrachten konnte, ist es dem protestantischen Denken infolge der bei Luther begonnenen und in der evangelischen Aufklärungstheologie sowie im theologischen Liberalismus weitergeführten 'Existentialisierung' des christlichen Denkens verwehrt, Gott selbst oder bestimmte mit Gott zusammenhängende dogmatische Lehrinhalte als solche, d.h. unabhängig von ihrem Bezug auf die religiöse Identifikation des Menschen, als Gegenstand der Theologie aufzufassen. (Allerdings wird gegenwärtig auch das hier zurückgewiesene Verständnis der Theologie als "Wissenschaft von Gott" vertreten; dies geschieht mit besonderem Nachdruck bei Wolfhart Pannenberg (1973, 299ff; 1988, 58-72)).

- [positiv:] Protestantische Systematische Theologie wird sich daher (nicht als Dogmatik, sondern) als Glaubenslehre zu verstehen haben (vgl. Lange 2001, I 82-87). Ihr Thema ist also (nicht Gott selbst, sondern) das sowohl individuell kultivierte als auch im kirchlichen Leben kommunizierte religiöse Orientiertsein des Menschen, das sich im christlichen Kontext als Gottesbewusstsein niederschlägt. Zwar weiß sich das "als Gottesbewußtsein sich verstehende religiöse Subjekt … in einem transzendenten Grund gegründet, der aber nur in der sprachlich artikulierbaren Immanenz kognitiver, voluntativer oder emotiver Bewußtseinsakte manifest werden kann" (Wagner 1997, 526,46-48). Anders ausgedrückt: "nicht Gott selbst ist einer wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich, sondern allein das menschliche Gottesbewusstsein und seine Symbolwelten" (U. Barth 2003, VII).

II. Zur Binnenstruktur der Systematischen Theologie

Schon ein flüchtiger Blick auf die Schwerpunktbeschreibungen an solchen Evangelisch-Theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum, die im Bereich der Systematischen Theologie über mehr als einen Fachvertreter verfügen, weist auf eine interne Differenzierung der Disziplin hin. So weist das Hamburger Institut für Systematische Theologie drei Schwerpunkte aus, nämlich Religionsphilosophie, Dogmatik und Ethik. Dieselbe Dreiteilung findet sich im Bereich Systematische Theologie an der Universität Halle.

Auch im Leipziger Institut für Systematische Theologie gibt es eine Dreiteilung; neben den Abteilungen für Dogmatik und Ethik taucht hier allerdings nicht die Religionsphilosophie auf, sondern die Abteilung für Fundamentaltheologie und Hermeneutik. In München ist der Schwerpunkt Fundamentaltheologie nicht mit der Hermeneutik, sondern mit der Ökumene verbunden. Als Hauptgegenstand der Lehre wird dann allerdings die Dogmatik genannt, während die Religionsphilosophie als einer der Forschungsschwerpunkte erscheint; hier scheint die Religionsphilosophie als Teil der Fundamentaltheologie verstanden zu sein (so auch bei Axt-Piscalar, Abschnitt 1). An der Theologischen Fakultät der Universität Zürich schließlich gibt es ein Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie.

Diese flüchtigen und höchst selektiven Beobachtungen verdeutlichen bereits, dass sich die differenzierte Binnenstruktur der Systematischen Theologie wissenschaftsorganisatorisch nicht einheitlich niederschlägt. Vielfach verdankt sich das spezifische Profil eines Lehrstuhls auch der Prägung durch einen bestimmten Fachvertreter.

Das heißt aber nicht, dass es keine Sachgründe für eine konkrete Differenzierung innerhalb des Faches gäbe. Im Folgenden soll versucht werden, solche Sachgründe zu benennen und daraus (sowie im Horizont der in Kapitel I formulierten Grundentscheidungen) eine Bestimmung des Verhältnisses der Unterdisziplinen der Systematischen Theologie abzuleiten.

II. 1. Religionsphilosophie, Fundamentaltheologie und Hermeneutik als Disziplinen der Systematischen Theologie

Die oben notierte Verschiebung des Gegenstands der (Systematischen) Theologie von Gott zum menschlichen Gottesbewusstsein spiegelt sich in der Aufnahme der Religionsphilosophie in den Kanon der systematisch-theologischen Einzelfächer (Überblick: Rosenau 1997). Den Beginn dieses Vorgangs markiert die Destruktion der rationalen Gotteserkenntnis durch Immanuel Kant (1724-1804). "Seit Kants 'Kritik der reinen Vernunft' gibt es in der Philosophie und zumindest in der evangelischen Theologie einen weitreichenden Konsens darüber, dass die menschliche Vernunft nicht in der Lage ist, die Existenz Gottes zu beweisen" (Lange 2001, I 36). Mit Kants Kritik der für die menschliche Vernunft unabhängig vom Glauben zugänglichen Gotteserkenntnis ('natürliche Theologie') ging die bis dahin allgemein anerkannte philosophische Basis der christlichen Theologie verloren, und an die Stelle der unplausibel gewordenen natürlichen Theologie trat schließlich die Religionsphilosophie.

Das Dialoginteresse mit der Philosophie kann als Gemeinsamkeit von Religionsphilosophie und natürlicher Theologie gelten. Der Unterschied besteht darin, dass die Religionsphilosophie einen "postmetaphysischen" Ausgangspunkt wählt (vgl. Rosenau 1997, 758f); es geht nur mehr darum, "die Denkmöglichkeit der Begründung des Daseins in einem Transzendenten" darzulegen, wobei "Denkmöglichkeit scharf von Denknotwendigkeit zu unterscheiden ist" (Lange 2001, I 131; vgl. a.a.O, 192-214).

Sofern daher die "religionsphilosophische Grundlegung" der Reflexion des christlichen Glaubens "über Gott nur hypothetische Aussagen machen" kann, deren Verifikation ausschließlich durch subjektive Erfahrung möglich ist (Lange 2001, I 142), wird - neben Kants Destruktion der natürlichen Theologie - auch die lebensweltliche Nichtselbstverständlichkeit der Religion in der Moderne ernst genommen, also die Tatsache, dass die verifizierende subjektive Erfahrung auch ausbleiben kann. Religion ist in der Moderne nicht mehr unentbehrlich: "Während kein Individuum auf Teilnahme an Ökonomie, an Erziehung, an Rechtsschutz verzichten kann und Inklusion in diese Funktionssysteme praktisch erzwungen wird, gilt [in der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft] für Religion (wie zum Beispiel auch für Kunst) das Gegenteil" (Luhmann 1989, 349; vgl. Luhmann 2000, 302f).

Sofern im Rahmen eines religionsphilosophischen Zugangs 'postmetaphysischen' Charakters die Geltungsfrage nicht 'objektiv' und intersubjektiv verbindlich entschieden werden kann, agiert die Religionsphilosophie in gewisser Weise am Selbstverständnis der Religion vorbei. Es ist nämlich gerade die Voraussetzung des religiösen Selbstverständnisses, dass die "Begründung des Daseins in einem Transzendenten" (Lange 2001, I 131) durch subjektive Erfahrung verifiziert ist. Das Selbstverständnis der Religion besteht deshalb darin, dass der für sie konstitutive Glaube auf Offenbarung beruht, die ihrerseits (jedenfalls im Christentum) mit einem bestimmten Ereignis verbunden ist. Dieses Ereignis ist wiederum in einem Textkorpus verbindlich dokumentiert, das daher als Heilige Schrift gilt. Paul Tillich (1886-1965) hat das daraus entstehende Problem eindrücklich formuliert:

"Die Religionsphilosophie ist also der Religion gegenüber in der eigentümlichen Lage, daß sie das Objekt, das sie erfassen will, entweder auflösen oder sich vor ihm aufheben muß. Beachtet sie den Offenbarungsanspruch der Religion nicht, so verfehlt sie ihr Objekt und spricht nicht von der wirklichen Religion. Erkennt sie den Offenbarungsanspruch an, so wird sie zur Theologie" (Tillich 1925, 297).

Allerdings ist an die in I.1. getroffene Feststellung zu erinnern, nach der die den Glauben fundierenden Ereignisse, Dokumente und Traditionen durch den historisch-genetischen Zugriff bezüglich ihrer Geltung einer grundsätzlichen Irritation ausgesetzt sind, die nicht übersprungen werden kann, sondern im Zusammenhang systematisch-theologischer Reflexion stets mitzureflektieren ist. Angesichts dieser Einsicht relativiert sich die erwähnte Entgegensetzung von Religionsphilosophie und Theologie ganz erheblich. Der zunächst als Vorbeigehen am religiösen Selbstverständnis empfundene religionsphilosophische Zugang erweist sich infolge der rückhaltlosen Integration der historischen Kritik als Bestandteil des Selbstverständnisses der protestantischen Theologie.

Ihren wissenschaftsorganisatorischen Ausdruck findet diese Integration in der sog. Fundamentaltheologie, die sich - neben dem Begriff der Theologie insgesamt - mit jenen gerade genannten, für das Selbstverständnis der (christlichen) Religion konstitutiven Themen beschäftigt: Offenbarung (als "Durchbruch des Unbedingten in die Welt des Bedingten": Tillich 1925, 298), Glaube (als menschliche Entsprechung zum göttlichen Offenbarungshandeln), Heilige Schrift (das Dokument, in dem sich Offenbarung in maßgeblicher Weise niedergeschlagen hat; Überblick: Jeanrond/Petzoldt 2000; zu den Einzelthemen: Leonhardt 2004, 13f. 63-120). Die Fundamentaltheologie kann daher verstanden werden als der Import der religionsphilosophischen Herausforderung des religiösen Selbstverständnisses in den dieses Selbstverständnis reflektierenden Diskurs selbst.

Es ist nun nur konsequent, wenn die im eben beschriebenen Sinn verstandene fundamentaltheologische Aufgabe zugleich als eine hermeneutische Aufgabe aufgefasst wird. Denn das in der Fundamentaltheologie kultivierte Bewusstsein einer historischen Abständigkeit der für das christlich-religiöse Selbstverständnis konstitutiven Autoritäten, Denkformen und Symbolbestände legt die Frage nach deren "Übersetzbarkeit" in die Kontexte zeitgenössischer religiöser Erfahrung nahe, und das griechische Wort hermeneus - der etymologische Ursprung unseres Wortes 'Hermeneutik' - hat eben die Grundbedeutung "Dolmetscher" (vgl. von Bormann, 1986, 109,22f).

Die wissenschaftsorganisatorisch vielfach mit der Fundamentaltheologie verbundene Hermeneutik zielt deshalb nicht einfach nur auf ein nachvollziehendes Verstehen der Traditionsbestände christlichen Glaubens, sondern auf deren Gegenwartsrelevanz. Es geht der Hermeneutik um "das Hören auf die im zu interpretierenden Werk gestellte Frage, auf den im Werk begegnenden Anspruch" (Bultmann 1950, 226). Weil sich auch die Bearbeitung dieser hermeneutischen Aufgabe im Bewusstsein der 'postmetaphysischen' Situation und der Nichtselbstverständlichkeit der Religion in der Moderne vollzieht, wird in ihrem Vollzug - ganz analog zum gerade notierten Charakteristikum der Fundamentaltheologie - der schon in der Religionsphilosophie leitende Verzicht auf eine 'objektiv' und intersubjektiv verbindliche Entscheidung über die Geltung des (christlich-) religiösen Legitimitätsanspruchs in die christliche Theologie integriert.

Trotz der gleichsam fließenden Übergänge zwischen Religionsphilosophie auf der einen und Fundamentaltheologie (und Hermeneutik) auf der anderen Seite gibt es eine bleibende Differenz, auf die abschließend hinzuweisen ist: Während es der Religionsphilosophie - vorwiegend im Gespräch mit der säkularen Philosophie - um die prinzipielle Denkmöglichkeit einer religiösen Weltdeutung geht, zielen Fundamentaltheologie und Hermeneutik - unter der Voraussetzung solcher Denkmöglichkeit - auf die (selbst-)kritische Reflexion über die Grundlagen christlich-religiösen Glaubens. Dabei schärft das historische Bewusstsein den Blick für die unhintergehbare Kontingenz aller empirisch-geschichtlichen Ausdrucksformen christlicher Religiosität und die unaufhebbare Differenz gegenüber ihrem transempirischen Grund. In der Behandlung der Einzelthemen der materialen Dogmatik, von der Gotteslehre über die Christologie bis zu Ekklesiologie und Eschatologie, spiegelt sich die Berücksichtigung (oder Nichtberücksichtigung) dieser Differenz.

II. 2. Dogmatik (bzw. Glaubenslehre) und Ethik (bzw. Sittenlehre)

Im Folgenden geht es nicht um eine Aufzählung oder Grobskizze der in der evangelischen Dogmatik und Ethik behandelten Themenfelder (für die Dogmatik sei nochmals auf den Parallelbeitrag von Christine Axt-Piscalar verwiesen; vgl. zur Ethik: Reuter/Meireis 2001). Wie schon in Abschnitt II.1. wird lediglich das Problem einer sachgemäßen Verhältnisbestimmung der genannten Unterdisziplinen erörtert.

Dabei ist anzumerken, dass die am Ende von I.2. getroffene Feststellung, nach der die protestantische Systematische Theologie gegenwärtig nicht mehr als 'Dogmatik', sondern als Glaubenslehre zu verstehen ist, noch kaum offiziellen, wissenschaftsorganisatorischen Niederschlag gefunden hat: Schwerpunktbeschreibungen und Lehrveranstaltungstitel verwenden vielfach noch das Wort 'Dogmatik'; in die vorstehende Überschrift sind deshalb beide Bezeichnungen aufgenommen. Dass in der Überschrift weiterhin neben dem (allgemein gebräuchlichen) Stichwort 'Ethik' noch die (etwas ungewohnte) Bezeichnung Sittenlehre auftaucht, hat damit zu tun, dass für die Verhältnisbestimmung der hier zu verhandelnden Unterdisziplinen der Systematischen Theologie die durch Friedrich Schleiermacher vorgeschlagene Differenzierung in Glaubens- und Sittenlehre aufgenommen werden soll (s. u.).

Der christliche Glaube zielt weder auf solche Aussagen über 'Gott und die Welt', die jedermann einleuchten müssen, noch auf solche Aussagen, denen gegenüber sich derjenige, dem sie einleuchten, neutral verhalten könnte. Anders ausgedrückt: Für den christlichen Glauben ist konstitutiv, dass er sich mit einer bestimmten Lebensorientierung verbindet.

In Abschnitt I.2. ist dies bereits deutlich geworden: Luthers Kritik an der philosophischen Theologie (als einer existentiell neutralen Gotteserkenntnis), seine Betonung des Vertrauensglaubens (, der sich gerade nicht in einer neutralen Kenntnis biblisch-theologischer Sachverhalte erschöpft), seine im Namen der Subjektivität des Glaubens vorgetragene Kritik an der lehramtlichen Domestikation des religiösen Lebens, die seit der protestantischen Aufklärungstheologie auch auf die Verbindlichmachung bestimmter theologischer Lehren bezogen wurde, - all dies zeigt, dass christliche Religiosität grundsätzlich und zumal in ihrer evangelischen Ausprägung ethisch orientiert ist.

Diese Ausrichtung des Christentums auf einen ethisch relevanten Glauben hat im 20. Jahrhundert Rudolf Bultmann (1884-1976) in besonderer Deutlichkeit betont:

"Versteht man unter 'von Gott' reden 'über Gott' reden, so hat solches Reden überhaupt keinen Sinn; denn in dem Moment, wo es geschieht, hat es seinen Gegenstand, Gott, verloren. Denn wo überhaupt der Gedanke 'Gott' gedacht ist, besagt er, daß Gott der Allmächtige, d. h. die Alles bestimmende Wirklichkeit sei. Dieser Gedanke ist aber überhaupt nicht gedacht, wenn ich über Gott rede, d. h. wenn ich Gott als ein Objekt des Denkens ansehe, über das ich mich orientieren kann, wenn ich einen Standpunkt einnehme, von dem aus ich neutral zur Gottesfrage stehe, über Gottes Wirklichkeit und sein Wesen Erwägungen anstelle, die ich ablehnen oder, wenn sie einleuchtend sind, akzeptieren kann. ... Denn in wissenschaftlichen Sätzen, d. h. in allgemeinen Wahrheiten von Gott reden, bedeutet eben, in Sätzen reden, die gerade darin ihren Sinn haben, daß sie allgemeingültig sind, daß sie von der konkreten Situation des Redenden absehen. Aber gerade indem der Redende das tut, stellt er sich außerhalb der tatsächlichen Wirklichkeit seiner Existenz, mithin außerhalb Gottes, und redet von allem andern als von Gott. ... Es zeigt sich also: will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden" (Bultmann 1925, 26-28).

Diese für den christlichen Glauben konstitutive Lebensorientierung ist der Grund dafür, dass es bis in die Neuzeit hinein keine institutionalisierte Trennung zwischen Dogmatik und Ethik gab. Zwar kann die spätantike, an Ciceros Schrift De officiis angelehnte und die Tradition des vorchristlichen Stoizismus aufnehmende Schrift De officiis ministrorum (386-389) des Ambrosius von Mailand (um 339-397) durchaus als erste christliche Ethik gelten (neueste Edition: CChr SL 15, 2000); auch die auf dem Zenit des Hochmittealters entstandene Summa Theologiae (1268-1273) des Thomas von Aquin thematisiert in ihrem (wiederum zweigeteilten) zweiten Hauptteil die für den Weg des Menschen zu Gott relevanten Rahmenbedingungen und Handlungsweisen. Diese ethischen Reflexionen werden aber von dem dogmatischen Rahmen, in dem sie stehen, bestimmt und erscheinen daher nicht als eigenständiges Thema neben der Dogmatik, sondern eher als deren Anwendung auf die menschliche Lebenswirklichkeit.

Dies ändert sich auch mit der Reformation nicht grundsätzlich. Zwar gilt: Wegen ihrer rechtfertigungstheologischen Grundlage "spricht evangelische Theologie der Ethik jede soteriologische Wirkung ab" (Honecker 1990, 29). Luthers Zwei-Regimenten-Lehre bahnt überdies eine theologisch legitimierte Freisetzung des säkularen Ethos an: Die weltliche Existenz steht nur und genau dann unter Gottes Wohlgefallen, wenn sich der Christ in der Gewissheit des unbedingten Angenommenseins durch Gott dem Nächsten um des Nächsten selbst willen zuwendet und dabei nicht die Erlangung oder Steigerung des eigenen Gnadenstandes intendiert. Eine ethisch autonome, an den weltlichen Sachgesetzlichkeiten orientierte Lebensgestaltung löst mithin die kirchlich fremdbestimmte, asketische Weltflucht monastischer Disziplin als paradigmatische Existenzform christlichen Lebens ab, vgl. Luther 1520: "Ein Christenmensch, der in diesem Glauben lebt, [bedarf] nicht eines Lehrers guter Werke, sondern was ihm vorkommt, das tut er" (Luther deutsch 2, 98).

Zugleich aber wird die in der Lutherschen Theologie grundgelegte "Autonomie des Glaubenssubjekts" (Rendtorff 1982, 486,5f) im 16. Jahrhundert faktisch (noch) nicht realisiert. Denn neben Luthers prinzipiellem Zugeständnis der sittlichen Autonomie des Glaubenden stand die das Luthertum zwischen Reformation und Aufklärung durchweg prägende Auffassung von der normativen Relevanz der gegebenen Ordnungen. "Die weltlichen Ordnungen gewinnen ihre ethische Verbindlichkeit daraus, daß sie von Gott dem Menschen zu Nutze eingerichtet, also dem Gedanken der Liebe Gotte gemäß zu begreifen sind, ihren Bestand aber unabhängig und gegebenenfalls auch gegen das menschliche Subjekt reklamieren" (Rendtorff 1982, 486,9-12).

Diese Konstellation führt dazu, dass die - von Luthers Programm her eigentlich fällige - Verselbständigung der Ethik gegenüber der Dogmatik zunächst ausbleibt. Auch auf die (unvollendete) Epitome Theologiae moralis (1634) des langjährigen Helmstedter Professors Georg Calixt (1586-1656) trifft die Charakterisierung als des ersten Entwurfs einer eigenständigen lutherischen Ethik nur begrenzt zu. Ähnliches gilt für Ethices Christianae libri tres (1577) des reformierten Theologen Lambert Daneau (um 1530-1595; vgl. dazu: Lange 2002, bes. Abschnitt II).

Die Autonomie des ethischen Subjekts, die schließlich zur Verselbständigung der Ethik führte, setzt sich in voller Konsequenz erst mit der Aufklärung durch. Bereits die sog. 'Neologie' (= neue Lehre) beendete ab ca. 1740 die Herrschaft der sog. 'Altprotestantischen Orthodoxie'. In ihren streng systematisch gehaltenen Darstellungen der reformatorischen Theologie und des Inhalts der Bekenntnisschriften hatten deren Vertreter versucht, die jeweils eigene konfessionelle Lehre als allgemein gültige Wahrheit darzustellen. Dabei sollte der Rückgriff auf die Philosophie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit untermauern. Nicht ohne Grund hat man deshalb von "evangelischer Scholastik" gesprochen (Leinsle 1995, 283-306).

Gegen die damit verbundenen Tendenzen zur lehrmäßigen Verfestigung der reformatorischen Theologie und ihrer Abkopplung von der christlichen Lebenswirklichkeit hatte sich schon der Pietismus gewandt. Unter autoritätskritischer Berufung auf die biblisch bezeugte Verkündigung Jesu verschärfte die Neologie die Kritik an der Orthodoxie durch eine konsequente Relativierung der Dogmenautorität. Als verbindlich wurde ausschließlich die ethische Bedeutung der christlichen Verkündigung akzeptiert: Nur solche Lehren des Christentums, die als Anleitung zum moralischen Leben dienen und eine Beförderung von Tugend und Glückseligkeit versprechen, können öffentliche Geltung beanspruchen.

Während die ältere Ethik (als Anwendung der Dogmatik auf die menschliche Lebenswirklichkeit) von der Dogmatik abhängig war, kehrt sich das Verhältnis in der evangelischen Theologie der Aufklärung um: Die Dogmatik gerät in Abhängigkeit von der Ethik - ein Vorgang, der im philosophischen Bereich in der durch Kant vollzogenen Trennung der Religion von Metaphysik und natürlicher Theologie einerseits und der Verbindung von Religion und Ethik andererseits eine Parallele aufweist (vgl. zum Ganzen die Hinweise bei Hauschild 1999, 468-474; Einzelheiten bei Hirsch 1964, Band 4, 1-337).

Seit dieser Verselbständigung der Ethik ist ihr Verhältnis zur Dogmatik zum Problem geworden, und es hat zahlreiche Versuche einer Klärung dieses Problems gegeben (hilfreich als Überblick: Birkner 1993). So hat beispielsweise Karl Barth (1886-1968) unter den spezifischen historischen Voraussetzungen der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts das voraufklärerische Programm erneuert und ausdrücklich eine "Einbeziehung der Ethik in die Dogmatik" gefordert (K. Barth 1938, 889; vgl. 875-890). Die Sachgemäßheit dieses Vorgehens begründet er im 1938 erschienenen Band I/2 der Kirchlichen Dogmatik damit, dass es aus christlicher Sicht keinen Bereich der (in der theologischen 'Ethik' zu behandelnden) menschlichen Welt- und Lebenswirklichkeit geben kann, in dem etwas anderes von Belang ist, als die in der 'Dogmatik' thematisierte Offenbarung Gottes in Jesus Christus: "eine äußerlich getrennte literarische oder akademische Behandlung der Ethik" bleibt zwar auch unter dieser Voraussetzung noch möglich, aber nur, wenn die Ethik "ausgesprochen und faktisch den Charakter einer theologischen Hilfswissenschaft" trägt (K. Barth 1938, 889; vgl. zur Auseinandersetzung mit ihm: Rendtorff 1990, 46-49).

Noch in den Jahren 1928 und 1930 freilich hatte Karl Barth in seinen (erst 1973 veröffentlichten) Münsteraner und Bonner Ethik-Vorlesungen betont, dass dem Menschen die "göttliche Ordnung … nicht erst in den göttlichen Stiftungen des Gnadenreiches … entgegentritt", sondern bereits - wenn auch in noch nicht hinreichend konkretisierter Form - in den naturgegebenen "Schöpfungsordnungen" wie Ehe, Familie und Arbeit (K. Barth 1928/1930, 366).

Im Gegensatz zu dem von Karl Barth in der Kirchlichen Dogmatik gewählten Ansatz geht es Trutz Rendtorff darum, die Eigenständigkeit der Ethik als eines theologischen Faches gerade gegenüber der Dogmatik festzuhalten. Im Hintergrund dieses Zugangs steht nicht - wie bei K. Barth - die Frontstellung gegenüber der neuzeitlichen Entwicklung des protestantischen Christentums, sondern das Bemühen, diese Entwicklung als zeitgemäße Weiterführung des reformatorischen Ansatzes zu verstehen. Daraus ergibt sich die Einsicht, dass sich die Selbstverständigung über das Christentum in Neuzeit und Moderne zunehmend weniger auf der Ebene des (kirchlich domestizierten) dogmatischen Diskurses, sondern eher im Bereich des (individuell verantworteten) ethischen Nachdenkens vollzieht. Insofern kann Rendtorff die Ethik verstehen als "eine Steigerungsform der Theologie, weil die relevanten und aktuellen ethischen Fragen in gesteigerter Weise die Frage nach Grund und Ziel der menschlichen Lebenswirklichkeit aufwerfen" (Rendtorff 1980, I 14).

Die behauptete Priorität der Ethik gegenüber der Dogmatik in einer der gegenwärtigen Situation angemessenen Theologie verbindet Rendtorff mit einem großräumigen theologiegeschichtlich-gegenwartsdiagnostischen Zugriff:

"In der Verselbständigung der Ethik gegenüber der Dogmatik kommt die für die neuzeitliche Theologie insgesamt, vor allem in den historischen Disziplinen, zu beobachtende Überschreitung eines dogmatischen und kirchlich-konfessionellen Theologiebegriffs zum Zuge. In der systematischen Theologie wird 'Ethik' zum Titel für die Orientierung der Theologie an den Bedingungen der Moderne, 'Dogmatik' zum Titel für das Festhalten an bzw. die Rückwendung zum 'klassischen' vorneuzeitlichen Theologiemodell" (Rendtorff 1990, I 43f).

Während in Rendtorffs Ansatz die Dogmatik mit einem vorneuzeitlichen und die Ethik mit einem modernitätskompatiblen Theologiebegriff verbunden wird, erlaubt es die durch Friedrich Schleiermacher vorgenommene Zuordnung von 'Glaubens-' und 'Sittenlehre', einen - m. E. auch gegenwärtig plausiblen - 'Mittelweg' zwischen den an K. Barth (Priorität der Dogmatik) und T. Rendtorff (Priorität der Ethik) demonstrierten Alternativen zu formulieren (vgl. zum Folgenden: Birkner 1964).

Schleiermacher hat einerseits, namentlich in seinen (nie gehaltenen) Reden Über die Religion (1799, 2. Aufl. 1806, 3. Aufl. 1821, 4. Aufl. 1831), der seit Kants Kritik akuten Krise einer rationalen Theologie dadurch Rechnung getragen, dass er die Unabhängigkeit der Religion von der philosophischen Welterklärung (Metaphysik) nachdrücklich betont hat. Andererseits hat er sich auch gegen die in der evangelischen Aufklärungstheologie und bei Kant begegnende Ableitung der Religion aus sittlicher Erfahrung gewandt und die Eigenständigkeit der Religion auch gegenüber der Ethik geltend gemacht. Er versteht die Religion als den im individuellen Erleben wurzelnden Bezug des Einzelnen auf das Unendliche:

"Sie [die Religion] begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkhür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. … So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulazion sowohl als dem der Praxis gänzlich herausgeht. … Praxis ist Kunst, Spekulazion ist Wißenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. … [A]lles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (Schleiermacher 1799, 79f. 82).

Diese Abgrenzung der Religion von Wissen(schaft) einerseits und Handeln bzw. ethischer Praxis andererseits behält Schleiermacher auch in seinem (zuerst 1821/22 und in zweiter Auflage 1830/31 erschienenen) theologischen Hauptwerk Der christliche Glaube (oft kurz Glaubenslehre genannt) bei; anstelle von "Religion" ist hier freilich von "Frömmigkeit" die Rede, die als "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" und insofern als Gottesbeziehung bestimmt wird:

"§ 3 Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins …

§ 4 Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind" (Schleiermacher 1830, 14. 23).

Dass die Frömmigkeit nach Schleiermacher "rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun" ist, weist allerdings schon darauf hin, dass sie, umfassender betrachtet, "keineswegs von aller Verbindung mit dem Wissen und Tun ausgeschlossen werden" soll; vielmehr kommt es ihr zu, "Wissen und Tun aufzuregen" (Schleiermacher 1830, 19).

Mit seinem Rekurs auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Basis aller (wissenschaftlichen und praktischen) Äußerungen christlicher Frömmigkeit hat Schleiermacher eine gemeinsame Basis von Dogmatik (Glaubenslehre) und Ethik (Sittenlehre) gewonnen. Die Unterscheidung der Disziplinen vollzieht die unterschiedlichen Formen nach, in denen sich das Frömmigkeitsgefühl artikulieren kann: Die "Säze, die in engerem Sinne die dogmatischen sind", sind danach solche, "welche das Verhältniß des Menschen zu Gott, aber als Interesse ausdrükken, wie es seinen verschiedenen Modificationen nach in Vorstellungen ausgeht"; "die ethischen Säze" sind diejenigen, "welche ganz dasselbe [sc. Verhältniß des Menschen zu Gott] ausdrükken, aber als innern impetus [= Antrieb], der in einen Cyklus von Handlungen ausgeht" (Schleiermacher 1843, 23).

Mit dieser Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik hat Schleiermacher einen Abgrenzungsvorschlag formuliert, der gerade in der gegenwärtigen Situation in (mindestens) zweifacher Weise Beachtung verdient:

a.

Er erlaubt - durch den Rekurs auf eine gemeinsame Basis von Dogmatik und Ethik - eine Aufrechterhaltung sowohl des Zusammenhangs als auch der jeweiligen Eigenständigkeit beider Teildisziplinen der Systematischen Theologie: "Das ursprüngliche christliche Bewußtsein, der ursprüngliche christliche Glaube, hat zwei Richtungen, eine nach dem Gedanken, eine andere nach der That … Wir dürfen also die Säze unserer Sittenlehre nicht auf dogmatische Säze zurückführen, sondern auf das, was auch diesen zum Grunde liegt" (Schleiermacher 1843, 24: Vorlesung 1826/27). Diese Verhältnisbestimmung vermeidet zugleich die Hierarchisierung von Dogmatik und Ethik, wie sie - in je unterschiedlicher Weise - für die Ansätze von K. Barth und Rendtorff typisch ist.
 

b.

Er gestattet es, die konkreten historischen Ausprägungen sowohl der dogmatischen als auch der ethischen Lehrbildung als jeweils zeitgenössische Artikulationsformen des christlichen Frömmigkeitsgefühls aufzufassen. Ausgehend von diesem Verständnis werden nicht nur die von Schleiermacher in der Glaubenslehre im Horizont gegenwärtiger religiöser Erfahrung durchgeführten Umwertungen und Umformungen zahlreicher Lehrstücke der überlieferten Dogmatik möglich, sondern es kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich das vom christlichen Frömmigkeitsgefühl freigesetzte Handeln "in verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten in ganz verschiedenem Maaße" artikuliert (Schleiermacher 1843, 22).

Die im letzten Zitat zum Ausdruck kommende Einsicht in den historisch-kontingenten Charakter christlicher (Lehr- und) Lebensnormen entspricht exakt der am Ende von II.1. betonten unhintergehbaren Kontingenz aller empirisch-geschichtlichen Ausdrucksformen christlicher Religiosität und der unaufhebbaren Differenz gegenüber ihrem transempirischen Grund. Einem von dieser Einsicht geleiteten Theologieverständnis kommt daher für den Selbstverständigungsprozess protestantischen Christentums in der Situation eines weltanschaulichen und ethischen Pluralismus wegweisende Bedeutung zu.

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PD Dr. Rochus Leonhardt, Rostock
E-Mail: rochus.leonhardt@theologie.uni-rostock.de