Die Entstehung und der Inhalt des Neuen Testaments

Udo Schnelle

1. Einleitung

Geschichte ist immer da, zugleich muss sie aber stets neu angeeignet, gedeutet und repräsentiert werden. Dies gilt auch für das Neue Testament; es ist das am meisten übersetzte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Zugleich verstaubt es in den Regalen, sein Inhalt ist weitgehend unbekannt geworden und er muss immer wieder neu erschlossen und ausgelegt werden. Was ist das Neue Testament, was ist sein Inhalt und welchen Anspruch erhebt es? Einen ersten Hinweis auf die Beantwortung dieser Fragen gibt der Apostel Paulus in 1 Thess 2,13: "Und darum danken wir Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt." Für das sachgemäße theologische und historische Verständnis der Bibel gilt nach Paulus: Gottes Wort im Menschenwort. Das Neue Testament fiel nicht einfach vom Himmel, sondern es wurde im Laufe einer Geschichte durch Menschen aufgeschrieben und von Menschen zusammengestellt. Dies ist kein Mangel, sondern Zeichen der Nähe und Zugewandtheit Gottes zum Menschen. Wenn wir nach der Entstehung des Neuen Testamentes und seiner Schriften fragen, müssen wir seine Gestaltung durch Menschen ernst nehmen. Wir tun es in der Überzeugung, dass sich gerade in solchen "irdenen Gefäßen" (2 Kor 4,7) die Gegenwart Gottes offenbart und das Reden Gottes in Worten von Menschen vernehmbar wird.

2. Die Entstehung der Schriften des Neuen Testamentes

Von den 27 Schriften des Neuen Testamentes [1]besitzen wir keine Originale mehr. Sie sind uns nur in Abschriften überliefert, deren älteste um das Jahr 150 n. Chr. zu datieren ist. Die Masse der wertvollen Abschriften stammt aus dem 4. bis 6. Jh. n. Chr. Insgesamt gibt es ca. 5500 griechische Handschriften, die den Text des Neuen Testamentes überliefern [2]. Dies ist eine große Anzahl, von den meisten Werken antiker Schriftsteller existieren sehr viel weniger als 100 Handschriften [3]. Man sieht daran, dass das Neue Testament sehr gut überliefert ist und sein ursprünglicher Text fast hundertprozentig rekonstruiert werden kann [4]. Über keine Person der Antike sind wir quantitativ und qualitativ so informiert wie über Jesus von Nazareth. Keine religiöse Bewegung der Antike wurde so intensiv und kritisch erforscht wie das frühe Christentum.

2.1 Jesus von Nazareth als historischer und sachlicher Ausgangspunkt der Entstehung des Neuen Testaments

Alle neutestamentlichen Schriften beziehen sich auf das Leben und Wirken des Jesus von Nazareth, der um das Jahr 27 als jüdischer Weisheitslehrer und Endzeitrepräsentant auftrat und im Jahr 30 von den Römern als politischer Aufrührer hingerichtet wurde. Im Zentrum der Verkündigung Jesu stand die Botschaft des Kommens des einen Gottes Israels in seinem Reich. Vom Monotheismus her belebte Jesus die jüdische Religion neu, seine gesamte Botschaft war streng theozentrisch ausgerichtet. Ausgangspunkt des Denkens Jesu ist die Realität des Reiches Gottes, von hier aus nimmt er Stellung zum Gesetz. Während die Pharisäer, Sadduzäer, Zeloten und Essener sich an einer schrift- und traditionsgebundenen Auslegung des Gotteswillens orientierten, begründet Jesus in schöpfungstheologischer, weisheitlicher und eschatologischer Argumentation den ursprünglichen Gotteswillen neu. Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ist das Zentrum der Ethik Jesu, die zwischen Thoraverschärfung und Thoraentschärfung steht. Während im rituell-kultischen Bereich eine Normenentschärfung zu beobachten ist, herrscht im individual-ethischen Bereich eine Normenverschärfung vor. Jesus verstand sich wahrscheinlich selbst als der gegenwärtig und zukünftig wirkende Menschensohn. Er war davon überzeugt, sowohl in Gegenwart als auch in Zukunft die entscheidende Gestalt in Gottes endzeitlichem Handeln zu sein. Wie auch immer man einzelne Texte beurteilt, der Gesamtbefund des Neuen Testaments lässt nur einen historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch! Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Heilungen und Wunder, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde. Dieser Anspruch Jesu setzte bereits vorösterlich einen Deutungs- und Interpretationsprozess in Gang, der sich nach Ostern fortsetzte. Die einsetzende Ausarbeitung einer begrifflich reflektierten Christologie stellt keinen Bruch dar und ist kein neuer Weg, sondern ein bedeutsamer Schritt auf dem bereits eingeschlagenen Weg, weil vor und nach Ostern dieselbe Einsicht dominiert: Jesus von Nazareth gehört auf die Seite Gottes. Schon vor Ostern gab es einen Deutungsbedarf der Person Jesu, der sich im Rahmen der eschatologischen Erwartungen Israels vollzog. Weil Jesus schon vor Ostern mit seiner Gottesreich-Verkündigung eine umfassende neue Sinnbildung vornahm und einen Erzähl- und Erinnerungsprozess auslöste, bildet er nicht nur historisch, sondern auch theologisch den Ausgangspunkt der Entstehung des Neuen Testaments [5].

2.2 Die frühe mündliche und schriftliche Überlieferung

Nicht das Ausbleiben des Reiches Gottes bzw. des wiederkommenden Menschensohnes ist der eigentliche Auslöser für die Entstehung der frühen Christologie, sondern Jesu vorösterlicher Anspruch. Die Erscheinungen des Auferstandenen bestätigten diesen Anspruch ebenso wie die Geist-Erfahrungen der frühen Christen. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi von den Toten mussten einer Deutung unterzogen werden, die zugleich an Worte Jesu und Erzählungen über Jesus anknüpfte und neue Interpretationskategorien schuf. In der Verkündigung und in der Unterweisung wurden Jesu Gleichnisse von den ersten Christen ebenso erzählt wie die Berichte über seine Wundertaten. Die frühen Gemeinden rahmten prägnante Worte Jesu mit Erzählungen über Jesus und machten sie so rezipierbar. Es entstanden erste kleine Sammlungen von Streitgesprächen und Wundererzählungen (vgl. Mk 2,1-3,6), und thematisch verwandte Stoffe wie Gleichnisse (vgl. Mk 4) und ethische Themen (vgl. Mk 10) wurden zu Blöcken gestaltet. Schon sehr früh bildete die Passionsgeschichte in schriftlicher Form einen Grundstein der Jesusüberlieferung, die dann später in die Evangelien einfloss. Bei der Wiedergabe von Worten Jesu oder Geschichten über ihn in Predigt, Liturgie, Lehre und Polemik griffen die frühen Gemeinden sowohl Verkündigungsformen Jesu als auch in der Umwelt gebräuchliche Gattungen auf. Zwar lässt sich der Prozess der schriftlichen und mündlichen Bildung der Jesustraditionen im einzelnen nur sehr schwer nachweisen, aber wir dürfen davon ausgehen, dass sowohl die Logienquelle als auch die Evangelien das Resultat eines längeren Überlieferungsprozesses sind. Die ersten schriftlichen Quellen liegen uns allerdings mit den Paulusbriefen vor.

2.3 Die Paulusbriefe

Paulus wurde um 5 n. Chr. in der hellenistischen Metropole Tarsus geboren und erhielt wahrscheinlich in Jerusalem eine Ausbildung zum Pharisäer. Er gehörte zu den erbittertsten Gegnern der Jerusalemer Urgemeinde (vgl. Gal 1,13ff) und wurde durch eine Erscheinung des auferstandenen Jesus Christus ca. 32/33 n. Chr. bei Damaskus zum Apostel der Völker berufen. Da er zunächst allein und relativ erfolglos missionarisch wirkte, schloss er sich Anfang der 40er Jahre der Mission in Antiochia (Syrien) an. Hier wirkte er vor allem mit Barnabas zusammen und unternahm die erste Missionsreise (vgl. Apg 13/14). Nach dem Apostelkonzil (48 n. Chr.) begann er mit einer eigenständigen Mission, die ihn immer mehr in den Westen des römischen Reiches trieb und mit der Bildung zahlreicher eigenständiger Gemeinden aus Juden- und Heidenchristen die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte des frühen Christentums auslöste. Aus dieser Zeit besitzen wir 7 Briefe, die mit Sicherheit von Paulus geschrieben wurden. Die Briefe haben verschiedene Funktionen: Mit ihnen antwortet Paulus auf Anfragen der jungen Gemeinden. Er versucht, die durch innere wie äußerer Probleme gefährdete neue Identität der Gemeindeglieder zu stabilisieren. Er wehrt sich gegen Verdächtigungen und Unterstellungen und versucht, seine Erstverkündigung in den Gemeinden durch die Briefe in Erinnerung zu rufen und zu aktualisieren.

Paulus erhebt in und mit seinen Briefen einen singulären Anspruch: Sie formulieren, postulieren und enthalten den verbindlichen apostolischen Glauben, die (allein) gültige Form des Evangeliums. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass erst der selbständige Missionar und Gemeindegründer Paulus zwischen 50 und 62 n. Chr. als Briefschreiber in Erscheinung tritt, denn der im Apostelbrief erhobene Anspruch setzt erfolgreiche, eigenständige Gemeindegründungen voraus, die es zuvor für ihn offenbar nicht gab. Die Paulusbriefe sind zugleich situationsbedingte und grundsätzliche, normative Schreiben, die nicht irgendetwas zur Disposition stellen, sondern Paulus betreibt mit seinen Briefen eine aktive und erfolgreiche Werkpolitik (vgl. 2Kor 10,10): Er verleiht bewusst seinem Wirken und ,seinem' Evangelium einen autoritativen Status. Deshalb können die authentischen sieben Paulusbriefe ? bei aller Kontinuität zu antiken Briefkonventionen ? als eine neue eigenständige Sub-Gattung, als Apostelbriefe bezeichnet werden. Dabei ist der intellektuelle Anspruch dieser Briefe bemerkenswert; eine Schrift wie z. B. der Römerbrief mit seiner mitreißenden Argumentation, seiner kunstvollen Disposition, der Fülle der behandelten Thema, dem hohen Anteil völlig neuer Gedanken und seiner wirkungsgeschichtlichen Kraft kann es mit jedem Brief Senecas oder jeder Kunstrede eines Dion von Prusa aufnehmen.

Der 1.Thessalonicherbrief wurde im Jahr 50 n. Chr. in Korinth abgefasst und ist die älteste neutestamentliche Schrift. Der Apostel Paulus geht in diesem Brief vor allem auf aktuelle Fragen der Gemeinde ein. Besonderes Gewicht hat dabei eine Anfrage nach dem Geschick der vor Jesu Wiederkunft bereits verstorbenen Christen. Sind sie aus der kommenden Gemeinschaft mit dem Herrn ausgeschlossen? Paulus antwortet darauf mit dem Hinweis, dass verstorbene und lebende Christen in gleicher Weise mit dem wiederkommenden Christus vereinigt werden (vgl. 1 Thess 4,13-18).

Der 1.Korintherbrief entstand 54 n. Chr. in Ephesus, der 2.Korintherbrief 55 n. Chr. in Makedonien. Beide Briefe geben uns einen Einblick in das Leben einer sehr lebendigen frühchristlichen Gemeinde. In Korinth hatten sich rivalisierende Gruppen gebildet (1 Kor 1,10-4,21), es gab sehr verschiedene Auffassungen über Fragen der Sexualethik (vgl. 1 Kor 5/6/7), Auseinandersetzungen um das Essen von Götzenopferfleisch (1 Kor 8-10), das Verhalten im Gottesdienst (1 Kor 11), die Bedeutung der Geistesgaben (1 Kor 12-14) und das Verständnis der Auferstehung der Toten (1 Kor 15). Offenbar waren Teile der korinthischen Gemeinde Anhänger eines schwärmerischen, geistbetonten Christentums, das sich bereits im Geist mit Christus vereint sah. Paulus fragt diese Gruppe in 1 Kor 4,8: "Ihr seid schon satt geworden? Ihr seid schon reich geworden? Ihr herrscht schon ohne uns?" Die Parole dieser Christen lautete: "Alles ist erlaubt!" (1 Kor 6,12a). Paulus greift dieses Schlagwort auf und ergänzt es: "Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber ich werde mich nicht von etwas beherrschen lassen" (1 Kor 6,12b-d). Dem Streben nach außerordentlichen Geistesgaben und spekulativer Weisheit stellt Paulus seine Kreuzestheologie gegenüber. Für Paulus ist das Kreuz das entscheidende Kriterium der Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis. Nach Gottes Willen rettet allein die Torheit der Kreuzespredigt, nicht menschliche Weisheit (1 Kor 1,18ff). Das Kreuz entwertet alles menschliche Rühmen und Streben, denn es bringt eindrücklich das Paradoxon des christlichen Glaubens zum Ausdruck: Nicht in den Höhen menschlicher Weisheit und Erkenntnis, sondern in den Tiefen des Leidens und des Todes hat sich der Vater Jesu Christi als ein menschenfreundlicher Gott erwiesen. Damit erscheint Gottes Handeln in Jesus Christus als ein paradoxes Geschehen, das dem menschlichen Tun und der menschlichen Weisheit zugleich vorausläuft und widerspricht. In einem scheinbar völlig unsinnigen Geschehen lässt Gott sind finden, offenbart er seine Weisheit, Kraft und Gerechtigkeit.

Der 2.Korintherbrief wurde nicht lange nach dem ersten Brief geschrieben. In der Gemeinde von Korinth wirkten nun andere christliche Verkündiger, die sich selbst besonderer Offenbarungen, ekstatischer Erlebnisse und einer glanzvollen Selbstdarstellung und Schriftauslegung rühmten (2 Kor 10-13). Paulus hingegen warfen sie Schwäche im Auftreten vor und sprachen ihm die Befähigung zum Apostel ab. Paulus versucht nun der Gemeinde von Korinth klarzumachen, dass Nachfolge des Gekreuzigten gerade auch Leiden bedeutet und der Mensch sein Vertrauen nicht auf die eigene Kraft, sondern allein auf Gott setzen soll. In menschlicher Schwachheit offenbart sich die Kraft des göttlichen Wortes und die Herrlichkeit des neuen Bundes. Der 2.Korintherbrief ist gewissermaßen ein Zeugnis für die persönlich angewandte und durchlebte Kreuzestheologie des Apostels Paulus.

Der Galaterbrief richtet sich an Gemeinden in der Landschaft Galatien, die in der Gegend des heutigen Ankara lag. Kurz nachdem Paulus diese Gemeinden gegründet hatte, erhielt er die Nachricht, dass dort judenchristliche Prediger auftraten. Sie behaupteten, zur Vollendung des christlichen Glaubens sei es nötig, das Gesetz des Mose zu halten und die Beschneidung als Zeichen des Bundes Gottes mit seinem Volk zu übernehmen. Paulus sah dadurch seine gesetzesfreie Mission unter den Heiden im Kern bedroht und schrieb (im Spätherbst des Jahres 55 n. Chr. in Makedonien) einen engagierten Brief, in dem dringende Warnung, theologische Argumentation und werbende Bitte eindrucksvoll verbunden sind. Die besondere Situation in Galatien wurde für Paulus zum Anlass, seine Rechtfertigungslehre erstmals klar und deutlich auszuformulieren und in ihrer grundsätzlichen Bedeutung herauszustellen. In der paulinischen Rechtfertigungslehre drückt sich die grundlegende Erkenntnis der Vorgängigkeit des Heilshandelns Gottes aus.

Ihr Ausgangspunkt ist die Einsicht in den Geschenkcharakter allen Seins. Gott gewährt im Glauben an Jesus Christus die Teilhabe am neuen Sein. Damit steht der Mensch vor Gott als ein unverdient Beschenkter, der nicht mehr gezwungen ist, in der Welt auf Gott hin sein Heil zu realisieren. Vielmehr kann er als ein im Glauben Gerechtfertigter und von Gott Herkommender den Willen Gottes in der Welt tun. Rechtfertigung benennt bei Paulus immer ein 'Zuvor' des Handelns Gottes. Gott handelte bereits in Jesus Christus, bevor der Mensch zu handeln beginnt. Dieses bereits geschehene Handeln Gottes wird von Paulus streng getrennt und unterschieden vom stets nachfolgenden Tun des Menschen. Allein diese vorausgehende Tat Gottes schafft für den Menschen Heil und Sinn. Der Mensch wird somit von der unmöglichen Aufgabe entlastet, sich Sinn und Heil selbst schaffen zu müssen. Das Leben des Menschen erhält eine neue Bestimmung, und er wird frei für die Aufgaben, die er leisten kann. Und: Vor Gott ist der Mensch nicht die Summe seiner Taten, ist die Person unterscheidbar von ihren Werken. Nicht das Tun definiert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott. Die Gerechtigkeit kann wie das Leben nur und ausschließlich im Glauben an Jesus Christus empfangen werden.

Der Römerbrief gibt über Zeit und Anlass seiner Entstehung genau Auskunft (Röm 15,22-29): Paulus will nach Überbringung der Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem nach Rom kommen, um von dort aus eine missionarische Arbeit in Spanien zu beginnen. Die Ankündigung dieses Besuches ist der äußere Anlass des Briefes, der wohl im Frühjahr des Jahres 56 n. Chr. in Korinth geschrieben wurde. Die angestrebte Arbeitsgemeinschaft veranlasst Paulus, den Christen in Rom die Grundlinien seiner Verkündigung ausführlich darzulegen. Thema des Briefes ist Gottes Gerechtigkeit, d.h. seine verlässliche Treue und Zuwendung, die sich im Evangelium von Jesus Christus offenbart (1,16-17). Die Überzeugung, "dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben" (3,28), eröffnet Paulus die Möglichkeit, das Evangelium auch über die Grenzen des Judentums hinauszutragen. In Röm 6 ruft Paulus der Gemeinde von Rom die Realität ihres Heilsstandes in Erinnerung. Die Glaubenden und Getauften sind von der Macht der Sünde geschieden. Sünde bezeichnet bei Paulus nicht ein sittliches Fehlverhalten, sondern eine den Menschen jenseits des Glaubens beherrschende Macht (Röm 7). Allein die Zueignung der Befreiungstat Jesu Christi in der Taufe durch die Kraft des Heiligen Geistes (Röm 8) vermag die Sündenmacht zu überwinden. Das Gesetz bleibt für Paulus Wort und Wille Gottes, nicht aber Heilsgrundlage oder Heilsbedingung. Das Thema der Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Jesus Christus eröffnet auch für Israel neue Perspektiven. Paulus ist davon überzeugt, dass bei der Wiederkunft Jesu Christi Israel sich bekehren wird, so dass er in Röm 11,26 die prophetische Weissagung macht: "Ganz Israel wird gerettet werden." Im Römerbrief entfaltet Paulus umfassend seine Theologie, und nicht zufällig wurden kirchengeschichtliche Umbrüche durch die Lektüre des Römerbriefes ausgelöst, so z.B. die Reformation. Der Römerbrief ragt durch seine gedankliche Dichte aus den neutestamentlichen Schriften hervor. Die Grundlegung und die Konsequenzen des christlichen Glaubens werden hier wegweisend für alle Zeiten dargelegt [6].

Der Philipperbrief geht an eine Gemeinde, mit der Paulus seit ihrer Gründung besonders herzlich verbunden ist. Der Apostel schreibt den Brief aus dem Gefängnis in Rom, wahrscheinlich im Jahr 60 n. Chr. Anlass des Briefes ist Dank für die materielle Unterstützung der Gemeinde, die ein Gesandter der Gemeinde mit Namen Epaphroditus überbracht hat. Der Philipperbrief ist der persönlichste Brief des Apostels Paulus. In ihm kommt die besondere Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde Philippi zum Ausdruck. Durch ihn erhalten wir als Leser einen tiefen Einblick in das Denken und Fühlen des Apostels Paulus. Der Apostel ist alt geworden und sehnt sich danach, zu sterben, um mit Christus zu sein (Phil 1,20f). Dennoch findet er die Kraft, die von Streitigkeiten geprägte Gemeinde wieder neu am Modell der Jesus-Christus-Geschichte (Phil 2,6-11) aufzurichten. Unmissverständlich verdeutlicht er noch einmal, wie sehr die Offenbarung des Auferstandenen bei Damaskus sein Leben veränderte (Phil 3,8: "Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne").

Ebenfalls in Rom wurde ungefähr im Jahre 61 n. Chr. der Philemonbrief geschrieben. Mit diesem Brief legt Paulus Fürsprache für einen entlaufenen Sklaven mit Namen Onesimus bei dessen Herrn Philemon ein. Offensichtlich hatte Onesimus im Haus des Philemon einen Schaden verursacht und war aus Furcht vor Bestrafung geflohen. Er war dabei auf die Leute des Paulus gestoßen, hatte Kontakt mit dem Apostel bekommen und war durch die Begegnung mit ihm Christ geworden. Wo dies geschah, wissen wir nicht. Paulus bittet Philemon, seinen Sklaven als einen Bruder in Christus aufzunehmen und ihn dann als Helfer für seine missionarische Arbeit zur Verfügung zu stellen.

Die übrigen sechs Paulus zugeschriebenen Briefe (Kolosser, Epheser, 2.Thessalonicher, 1.2.Timotheus, Titus) stammen sehr wahrscheinlich nicht vom Apostel selbst, sondern wurden von Mitarbeitern und Schülern nach seinem Tod verfasst. Darauf weisen zahlreiche sprachliche und inhaltliche Verschiebungen gegenüber den unbestritten echten Paulusbriefen hin. An einem kurzen Beispiel möchte ich dies für den Kolosser- und Epheserbrief deutlich machen. Der Apostel Paulus spricht nie davon, dass die Christen schon auferstanden seien. Er vermeidet sowohl in den Korintherbriefen als auch im Römerbrief jede Andeutung in diese Richtung, um nicht enthusiastischen Strömungen im frühen Urchristentum Vorschub zu leisten, die meinten, man sei schon auferstanden. Demgegenüber heißt es nun in Eph 2,6: "Und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Jesus Christus", und in Kol 2,12: "Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben." Nach dem Tod des Apostels Paulus versuchten die Verfasser dieser sogenannten deuteropaulinischen Briefe, das Erbe des Apostels unter veränderten Voraussetzungen zu bewahren, wobei sie z. T. andere Akzente als Paulus setzten. Die unmittelbare Naherwartung wird aufgegeben und es setzt ein unvermeidlicher Anpassungsprozess ein. Die Gemeinden müssen sich in der Welt einrichten und mit den Herrschenden arrangieren. Revolutionäre Impulse des originär paulinischen Christentums (Aufhebung sozialer Unterschiede; gleichberechtigte Mitarbeit von Frauen in den Gemeinden) wurden aufgeweicht oder aufgehoben.

2.4 Die Evangelien

Anders als Paulus entfalten die Evangelien ihre Jesus-Christus-Geschichte als narrative Christologie. Dabei verwenden sie das Wort "Evangelium" in einem neuen Sinn. Evangelium bedeutet eigentlich: "gute Botschaft" und wird von den Christen zunächst nicht für eine erzählende Schrift, sondern grundsätzlich für die Bekanntmachung von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus verwendet. So sagt Paulus in Röm 1,16: "Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben." An diesen Sprachgebrauch mag Markus angeknüpft haben, der als erster einen zusammenfassenden Bericht von der Wirksamkeit Jesu gibt und diese Schrift mit dem Satz beginnt: "Anfang des Evangeliums von Jesus Christus ..." (Mk 1,1).

Die vier Evangelien stimmen darin überein, dass sie die frohe Botschaft von Gottes rettendem Handeln in einer Erzählung vom Wirken, Lehren, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth entfalten. Sie sind auch darin einig, dass der Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu in Verbindung mit dem Auftreten Johannes des Täufers stand, dass diese Wirksamkeit die Sammlung eines Kreises von Jüngern, wunderbare Heilungen und vollmächtige Lehre umfasste und dass sie in Jesu Tod am Kreuz ein gewaltsames Ende fand. Sie sehen in diesem Tod die durch Gottes Heilsplan vorgezeichnete Konsequenz eines Lebens kompromissloser Liebe und Hingabe und berichten von den Begegnungen der Jünger mit dem Auferstandenen, durch die ihnen gewiß wird, dass Gott Jesus vom Tod erweckt, ihn als Messias bestätigt und zum Vollender seines endzeitlichen Werkes eingesetzt hat.

Hauptziel aller Evangelien ist somit die Klärung der Identität des Jesus von Nazareth als Christus, die ihrerseits zur Identitätsbildung der Gemeinde führen soll. Dieser Aufgabe dienen alle erzählerischen und theologischen Strategien der Evangelisten. Dabei ist die narratio in den Evangelien stets gleichzeitig eine repraesentatio. Es geht nicht nur um Erinnerung, sondern immer auch um kerygmatische Vergegenwärtigung, d. h. um Aneignung im Glauben. Insofern ist das Evangelium eine Gattung sui generis, die keiner Obergattung zugeordnet werden kann. Beim Evangelium erschafft sich gewissermaßen der neue Inhalt seine eigene neue literarische Form! Literaturgeschichtlich sind die Evangelien deshalb keineswegs der ,Kleinliteratur' zuzuordnen, sondern sie verfügen über eine hohe literarische Qualität. Diese zeigt sich in einem hochkomplexen literarischen und theologischen Gesamtplan, einem überlegten Aufbau, der durchdachten Textabfolge innerhalb der Unterabschnitte, der zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Vernetzungen innerhalb des Gesamtwerkes, den behandelten theologischen, ethischen, anthropologischen Themen und schließlich in der Schaffung und Ausformung der neuen Literaturgattung ,Evangelium' selbst: Sie ist ein höchst kreativer Akt innerhalb der antiken Literaturgeschichte. Die Evangelien sind der gehobenen antiken Erzählliteratur zuzuordnen, in der religiöse, philosophische, ethische und kulturgeschichtliche Themen behandelt werden (vgl. vor allem Plutarch). Die Evangelien haben die Qualität eines Gründungsnarrativs, einer Groß- oder Meistererzählung, die sich in die Kultur der Menschheit eingeschrieben hat und bis heute Menschen erreicht und bewegt.

Das Markus-Evangelium ist das älteste Evangelium, das wahrscheinlich um 70 n. Chr. in Rom geschrieben wurde. Der Autor ist unbekannt, seine überragende und theologische Leistung besteht darin, daß er als erster die Erzählungen über Jesu Worte und Taten mit der Passionsgeschichte verband und so die neue Literaturgattung Evangelium schuf. Die Verbindung der Passionsüberlieferung mit den Gleichnissen und Wunderberichten ist das eigentlich Neue an der Gattung 'Evangelium'. Martin Kähler nannte deshalb das Markusevangelium eine "Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung". Wie zuvor Paulus interpretiert auch Markus die Jesus-Christus-Geschichte konsequent von Kreuz und Auferstehung her. In der Mitte des Evangeliums wird die entscheidende Frage von Jesus selbst gestellt: "Wer sagen die Leute, das ich sei?" (Mk 8,27). Petrus beantwortet diese Frage zutreffend (V. 29: "Du bist der Christus!"), versteht aber nicht, daß Jesus Christus leiden muß. An der Gestalt des Petrus und der anderen Jünger verdeutlicht Markus seiner Gemeinde, daß Jesus von Nazareth ein großer Gleichniserzähler (Mk 4) und machtvoller Wundertäter war.

Besonderes Gewicht haben im Markusevangelium die Berichte vom Sieg Jesu über die Dämonen. In seiner Vollmacht über die Macht des Bösen bricht sich Gottes Herrschaft in einer Welt des Leides und der Gebundenheit befreiend Bahn. Eigentümlicherweise stellt der Evangelist neben die Erzählungen von Heilungen und Dämonenaustreibungen, die Jesu göttliche Vollmacht zeigen, sehr betont sein Gebot, davon nichts weiterzusagen (1,25.34.44; 5,43; 7,36; 8,26.30). Man spricht in diesem Zusammenhang vom "Messiasgeheimnis" Jesu. Markus ist davon überzeugt, dass der sich in Wundern und Machttaten offenbarende Gottessohn erst von Kreuz und Auferstehung her erkannt und bekannt werden kann. Deshalb schildert er Jesus als den verborgenen Gottessohn, dessen wahres Wesen Gott erst in Kreuz und Auferstehung offenbart. Markus ist damit der Vertreter einer eigenständigen, aber Paulus durchaus verwandten Kreuzestheologie.

Das Matthäus-Evangelium wurde nach altkirchlicher Überlieferung vom Apostel Matthäus verfaßt (vgl. Mt 10,3). Gegen die Historizität dieser Nachricht spricht allerdings, daß der Autor des Matthäusevangeliums eindeutig das Markusevangelium als Grundlage für seine Darstellung der Geschichte Jesu Christi benutzte. Ein Augenzeuge des Lebens Jesu (Matthäus) hätte es aber nicht nötig gehabt, das Werk eines Nichtaugenzeugen (Markus) zu benutzen. Deshalb geht man heute in der Regel davon aus, daß ein unbekannter Christ mit Namen Matthäus das erste Evangelium schrieb. Der Evangelist verfaßte sein Evangelium in Syrien um 80-90 n. Chr. für eine judenchristliche Gemeinde, die sich nach harter Auseinandersetzung von der jüdischen Synagoge getrennt hatte und nun Heidenmission betreibt (vgl. Mt 28,16-20). Die Herkunft der matthäischen Gemeinde aus dem Judentum ist im Evangelium auf Schritt und Tritt sichtbar. So unterstreicht Matthäus die Verankerung der Geschichte Jesu im Alten Testament durch die sogenannten Erfüllungszitate. Wiederholt erscheint im Evangelium die Wendung "Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht ...". Matthäus betont die Gültigkeit des Gesetzes (Mt 5,17-20) sowie die ursprüngliche Begrenzung der Sendung Jesu und seiner Jünger auf das jüdische Volk (vgl. 10,5-6; 15,24). Im Zentrum des Evangeliums steht Jesus als Lehrer der besseren Gerechtigkeit (Mt 5,20: "Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen"). Dieser Grundgedanke des Evangeliums zeigt sich literarisch in den fünf großen Reden (Kap. 5-7; 10; 13; 18; 24-25), die den Aufbau des Evangeliums bestimmen. Die bekannteste Rede ist zweifellos die Bergpredigt (Mt 5-7), in der Jesus den Grundgedanken der besseren Gerechtigkeit entfaltet: Liebe zu üben ohne Berechnung und Grenzen. Als vollmächtiger Lehrer einer besseren Gerechtigkeit bürdet Jesus den Menschen nicht eine unerträgliche Last auf, sondern ruft gerade diejenigen, die sich unter menschlichen Satzungen und Geboten abquälen, in ein befreites und erfülltes Leben: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht" (Mt 11,28-30).

Der Verfasser des Lukas-Evangeliums gibt als einziger Evangelist in einem Vorwort Rechenschaft über seine Arbeit: "Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind. So habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfahrest, in der du unterrichtet bist" (Lk 1,1-4). Das Vorwort weist den Verfasser als einen gebildeten Schriftsteller aus, der sein Werk in die Tradition antiker Geschichtsschreibung stellen möchte. Leider sagt er nichts über seine eigene Person. Zwar wird er häufig mit dem in einigen Paulusbriefen erwähnten Arzt Lukas identifiziert (Phlm 24; Kol 4,14; 2Tim 4,11), was aber historisch unzutreffend sein dürfte, denn zwischen den echten Paulusbriefen und der Darstellung des paulinischen Wirkens in der Apostelgeschichte bestehen erhebliche Unterschiede. Auch hier müssen wir uns wieder mit der Einsicht begnügen, daß ein uns unbekannter Christ mit Namen Lukas um 90 n. Chr. das dritte Evangelium für überwiegend heidenchristliche Leser verfasste (wahrscheinlich in Rom). Jesus wird in seinem ganzen Wirken im Lukasevangelium sehr eindrucksvoll als Heiland der Sünder und Armen dargestellt, der sich immer wieder den Randgruppen der Gesellschaft zuwendet (vgl. Lk 6,20-22 u.ö.). Dazu treten nachdrückliche Warnungen vor den Gefahren des Reichtums (vgl. Lk 6,24-25) und die Empfehlung des schlichten Handelns aus Barmherzigkeit und Liebe (vgl. Lk 10,25-37). Lukas gliedert die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen in drei große Etappen: Am Anfang steht die Zeit des Alten Testamentes, dann folgt die Zeit Jesu als Mitte der Zeit und schließlich die Zeit der Kirche, die in der Apostelgeschichte dargestellt wird.

Die Apostelgeschichte beschreibt die Ausbreitung des Evangeliums in Jerusalem, Samaria und ganz Judäa bis hin nach Rom. Das Apostelkonzil (Apg 15) steht nicht nur in der Mitte der Apostelgeschichte, es bildet auch den Wendepunkt in der urchristlichen Missionsgeschichte. Von nun an konzentriert sich Lukas ganz auf das Wirken des Apostels Paulus, der das Evangelium nach Kleinasien (die heutige Türkei) und Griechenland trägt, bis er schließlich nach Rom gelangt, um auch dort das Evangelium zu verkünden.

Das Johannes-Evangelium entstand um 100 n. Chr. in Ephesus. Sein unbekannter Verfasser dürfte ein führendes Mitglied der johanneischen Schule gewesen sein. Damit bezeichnet man jene Gemeinden, in denen die drei Johannesbriefe und das Johannesevangelium entstanden und die eine ganz besondere Sicht des Christusgeschehens auszeichnet. Schon auf den ersten Blick fallen die großen Unterschiede zwischen dem Markus-, Matthäus- und Lukas-Evangelium (den Synoptikern) einerseits und dem Johannes-Evangeliums andererseits auf. Das Johannes-Evangelium bringt seinen Lesern eine ganz neue Art des Redens Jesu nahe, in der nicht die Verkündigung des Reiches Gottes, sondern die Bedeutung der Person Jesus Christus im Mittelpunkt steht. In Jesus von Nazareth ist Gottes offenbarendes Wort selbst Mensch geworden und läßt in einer heillosen Welt die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes aufscheinen. Schon der Prolog des Evangeliums (Joh 1,1-18) macht dies deutlich. Er ist ein Lied über das Wirken des Logos (des "Wortes"), durch das Gott alles schuf, das die Menschen zu Gott ruft, aber immer wieder auch auf Ablehnung stößt, bis es in Jesus von Nazareth "Fleisch" wurde. Dieses Bekenntnis wird im Evangelium erzählend entfaltet: Wer sich Jesu Botschaft glaubend öffnet, der "erkennt" in seinen Worten, seinem Wirken, Sterben und Auferstehen Gottes Herrlichkeit. In der Person Jesus von Nazareth begegnen ihm die Wahrheit und Wirklichkeit Gottes. Dieser Jesus kann von sich sagen: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich" (Joh 14,6). Das vierte Evangelium wurde zu Recht das "Geistliche Evangelium" genannt, denn es erhebt den Anspruch, unter der Führung des Heiligen Geistes die Person und das Werk Jesu Christi authentisch darzustellen.

Den Evangelien kommt innerhalb des Neuen Testaments eine besondere Stellung zu, denn als Erzählungen verleihen sie der einmaligen Jesu-Christus-Geschichte Dauer, wodurch Rezeption und Traditionsbildung überhaupt erst möglich wurden. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sind als Erinnerung durch Erzählen in den Evangelien gegenwärtig; durch Erzählen wird bei allen Evangelisten ein innerer Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive hergestellt, so dass in der Erzählung das Geschehen bewahrt wird.

2.5 Die weiteren Schriften

In den Umkreis der johanneischen Schule gehört die Offenbarung des Johannes, das einzige prophetische Buch im Neuen Testament. Die Offenbarung wurde um 95 n. Chr. auf der Insel Patmos vor der Westküste der heutigen Türkei geschrieben und wendet sich an sieben Gemeinden in Kleinasien. Diese Gemeinden leiden unter Verfolgungen durch die römische Staatsmacht. Der römische Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.) förderte am Ende seiner Herrschaft in Kleinasien mit staatlichen Zwangsmaßnahmen den Kaiserkult. Christen wurden gezwungen, vor einer Statue des römischen Kaisers Opfer darzubringen oder aber sie nahmen in Kauf, getötet zu werden. In einer eigenwilligen Sprache und einem von Bildern und Visionen geprägten Stil stellt der Verfasser der Offenbarung den Gemeinden vor Augen, daß trotz der hereinbrechenden Katastrophen Christus den Sieg erringen und seine Herrschaft aufrichten wird. Der Schlüssel für diese Erkenntnis ist die Vision des Sehers in Offb 5, wonach gerade das geschlachtete Lamm gegen alle Widerstände den Sieg davonträgt. In Visionszyklen werden in sich immer mehr steigernden Bildern die Katastrophen geschildert, durch die die Weltgeschichte und mit ihr auch die Gemeinde Jesu Christi hindurch muss. Dabei deutet die teilweise Wiederholung der Ereignisse darauf hin, dass es sich nicht um eine zeitliche Abfolge, sondern um eine sich immer mehr verdichtende Wesensschau der Endgeschichte handelt. Für die Gemeinde wird dies eine Geschichte der Prüfung, des Abfalls und des Martyriums, insbesondere in der Konfrontation mit der Macht des Anti-Göttlichen (vgl. Offb 13; 17). Der Gemeinde wird aber auch gezeigt, wie sie trotz all der Anfechtungen von Gott bewahrt wird. Am Ende der universalen Geschichtsschau der Offenbarung steht die neue und ungestörte Gemeinschaft Gottes mit den Seinen im himmlischen Jerusalem, in der alles Leid und aller Schmerz aufgehoben sind (Offb 21).

Eine Sonderstellung nimmt im Neuen Testament der Hebräerbrief ein, der von seiner Form her kein Brief, sondern ein schriftlich fixierter Lehrvortrag ist. Er wendet sich an Christen, die in der Gefahr stehen, in ihrer Glaubenstreue nachzulassen. Die Betonung des unvergleichlichen Ranges Jesu als Sohn Gottes und Hoherpriester und der Gültigkeit seines Erlösungswerkes soll dazu ermutigen, am Heil festzuhalten, auch wenn die Erfüllung noch aussteht. Den Jakobusbrief, den 1./2.Petrusbrief und den Judasbrief faßt man unter dem Begriff der "katholischen" Briefe zusammen. Diese Schriften sind nicht an bestimmte Gemeinden geschrieben, sondern sie weisen eine allgemeine (= katholisch) Empfängerangabe auf. Im Unterschied zu den Paulusbriefen ist diese Briefsammlung im Laufe der Kanonsgeschichte erst relativ spät zusammengestellt und abgeschlossen worden. Die Briefe gehen in unterschiedlicher Weise auf ethische und dogmatische Probleme innerhalb des frühen Christentums ein. Der zu den katholischen Briefen gehörende 2.Petrusbrief ist wohl die jüngste neutestamentliche Schrift, entstanden um 130 n. Chr.

Die frühen Christen traten als eine kreative literarische und denkerische Bewegung auf. Erstaunlich sind die hohe Literaturproduktion der neuen Bewegung und die damit verbundenen denkerischen und kulturellen Leistungen. Man schuf Literatur und bewegte sich in Literatur, so dass das frühe Christentum auch als ein Bildungsphänomen begriffen werden muss. Keine Gestalt der Antike wurde so schnell und umfassend literalisiert und denkerisch durchdrungen wie Jesus Christus! Bereits in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens schuf das frühe Christentum so viele Schriften und neue Gattungen wie keine andere Religion in ihrer Entstehungsphase.

3. Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

Das griechische Wort Kanon heißt übersetzt 'Maßstab', 'Richtschnur', 'Regel'. Die Kirche des 2. Jh. n. Chr. stand vor der Frage, welche Schriften den Maßstab für die christliche Lehre bilden sollten, denn sie sah sich mit einem neuen Problem konfrontiert. Zu dieser Zeit entstand die Bewegung der sogenannten 'Gnosis', d.h. "Erkenntnis". Es bildeten sich zahlreiche christlich-gnostische Gruppen und Zirkel, die neue Evangelien (z.B. das 'Evangelium der Wahrheit', das 'Philippus-Evangelium', das 'Thomas-Evangelium') und neue Briefe produzierten und sich dabei auf besondere Erkenntnis beriefen. Die Autoren dieser Werke stellten das Leben und das Wesen des Jesus von Nazareth in anderer Art und Weise dar als die vier später kanonisch gewordenen Evangelien und es stellte sich die Frage, ob diese neuen Schriften genauso wie die Paulusbriefe oder die synoptischen Evangelien Anerkennung in der Kirche finden konnten. Zudem trat um 150 n. Chr. ein Mann mit Namen Markion in Rom auf, der einen eigenen Kanon schuf. Er verwarf das Alte Testament, und seine Heilige Schrift bestand nur noch aus dem 'revidierten' Lukasevangelium und den durch Textauslassungen und Textmanipulationen 'gereinigten' Briefen des Apostels Paulus. Während der Kern des neutestamentlichen Kanons bereits im 2. Jh. feststand (13 Paulusbriefe, 4 Evangelien, Johannesbriefe), ging die Diskussion über einzelne Schriften (Hebräerbrief, Johannesoffenbarung) bis ins 3. und 4. Jh. weiter. Endgültig festgelegt wurde der Umfang des ntl. Kanons erst im Jahre 367 n. Chr. Bischof Athanasius von Alexandrien bestimmte in diesem Jahr erstmals amtlich, welche Schriften des Alten und Neuen Testamentes in den Gemeinden Ägyptens gelesen wurden. Es waren die 27 Schriften unseres heutigen Neuen Testaments, und diese endgültige Entscheidung von Athanasius setzte sich auch in den anderen Gebieten der Kirche durch. Die Zusammensetzung des neutestamentlichen Kanons war kein plötzlicher oder willkürlicher Schritt, der durch ein Gremium der Kirche vorgenommen wurde. Vielmehr war es der Abschluss eines langen Prozesses, in dem sich die Autorität der Schriften selbst durchsetzte und bewährte. Die Kirche schuf nicht den Kanon, sondern bestätigte ihn.

4. Gottes Wort im Menschenwort

Die einzelnen neutestamentlichen Schriften und der Kanon insgesamt sind in einem historischen Prozess entstanden, zugleich erheben sie aber den Anspruch, nicht nur Meinungsäußerungen ihrer jeweiligen Verfasser zu sein. Sie behaupten, daß durch das historisch fixierbare Menschenwort hindurch Gott selbst spricht. Dieser Anspruch ist nicht beweisbar oder äußerlich demonstrierbar, sondern erschließt sich nur im Glauben. Der Glaube erkennt, dass die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und das Gotteswort im Menschenwort zusammen gesehen werden müssen: Gott kommt aus Liebe den Menschen so nahe, dass er nicht nur selbst Mensch wird, sondern auch sein Wort in menschliches Reden einfließen lässt. Was auf den ersten Blick wie eine Schwäche Gottes aussieht, ist in Wahrheit die Stärke seiner Liebe: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde, und deshalb schenkt er uns sein Wort durch die Botschaft der ersten Zeugen.

Fußnoten:

[1] Vgl. dazu U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen, 9. Aufl. 2017; M. E. Boring, An Introduction to the New Testament. History, Literature, Theology, Louisville 2012.

[2] Vgl. hier K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart, 2. Aufl. 1989.

[3] Vgl. H. Hunger u.a., Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, München, 2. Aufl. 1988.

[4] Vgl. als aktuellste Ausgabe: E. Nestle - K. Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart, 28. Aufl. 2012.

[5] Völlig anders R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen, 7. Aufl. 1977, 1: "Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst."

[6] Zu Paulus vgl. U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin, 2. Aufl. 2014; F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013; E. P. Sanders, Paul. The Apostle's Life, Letters, and Thought, Minneapolis 2015; zur Geschichte des frühen Christentums vgl. U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums, Göttingen 3. Aufl. 2019.

 


Prof. Dr. Udo Schnelle, Halle
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