Was heißt reformiert?

Eberhard Busch

1. Reformiert heißt: christlich

Es gibt unechte Fragen, die nur so zum Schein gestellt und dann gleich im ersten Satz weggestellt werden. Die Frage: Was heißt reformiert? ist keine solche Frage. Es genügt nicht, darauf zu antworten: Es gibt uns Reformierte nun einmal (auf der Erde sogar etwa soviel wie Lutheraner) - und damit haben sich die anderen abzufinden oder damit behaupten wir uns selbst etwa gegenüber bei uns feststellbaren Tendenzen zur Abbröckelung. Es geht aber auch nicht so, wie eine nicht geringe Schar gerade von Reformierten reagieren würde, wenn man ihnen unsere Frage vorlegte: Sie würden diese Frage voll überholt finden, weil das Konfessionelle heute nicht mehr aktuell sei. Es ist vielmehr so: Es gehört zum Ernst der reformierten Konfession, dass sie diese Frage ernst nimmt. Wohl mag es so sein, dass heute in einer Zeit bei uns zunehmender Entchristlichung die Leute um die Kirche herum, wenn sie fragen, weniger fragen: Warum bist du reformiert oder lutherisch?, sondern: Warum bist du Christ? Und wohl uns, wenn wir dann antworten können und die Frage nicht wegwischen! Aber die andere Frage: Warum immer noch reformiert? ist für Reformierte sehr viel älteren Datums. Und das zeigt sich noch heute bei ökumenischen Begegnungen. Da ist es für Lutheraner oder für Katholiken in der Regel keine Frage, warum sie sind, was sie sind; die ersteren zeigen dann auf ein Buch in ihrer Hand mit genormten Bekenntnisschriften, die letzteren auf einen Herrn im Vatikan. Hingegen stehen Reformierte da mit ziemlich leeren Händen, wenn man sie fragt: Und warum seid nun ihr reformiert?

Reformierte müssen sich deshalb nicht verstecken vor den anderen. Diese Verlegenheit gehört zu ihrer Konfession und unterscheidet sie von anderen Konfessionen. Deren guter Grund und Sinn ist der, dass die reformierte Kirche von allem Anfang an nicht die Absicht zur Bildung und Aufrechterhaltung einer besonderen Konfession hatte. Es war ihr genug, und es lag ihr alles daran, eine echt christliche Kirche zu sein, Kirche Jesu Christi. Sie hat es darum unterlassen, die Kirche mit dem Namen eines verdienstvollen Menschen im 16. Jahrhundert zu schmücken wie die lutherische Kirche. Sie hat es auch unterlassen, den schönen Begriff der katholischen, d.h. der weltweiten Kirche an einen Städtenamen zu binden wie die römische Kirche. Reformiert heißt einfach: christliche Kirche. Dieser Begriff ist allerdings ganz streng zu nehmen. Er meint in der Hauptsache nicht eine Eigenschaft ihrer Mitglieder, die, so wie andere sportlich oder sangesfreudig, so nun eben christlich sind. Er besagt im Wesentlichen, dass Jesus Christus das Haupt ihrer Versammlung ist, – Christus der, der sie zusammenruft und zusammenhält, – Christus der, der in ihren Versammlungen zu ihnen redet und sie speist und tränkt, der sie hört und zu dem sie singen und beten, – Christus der, der sie erquickt und tröstet, der ihnen gebietet und ihnen den Weg weist, – Christus der, der vor ihnen her geht und der sie begleitet und sie aussendet zu den sie umgebenden Menschen. Und zwar der Christus, der einmal gestorben ist für die Sünden der Welt, der uns befreit hat von einem verkehrten zu einem neuen Leben aus reiner Gnade, ohne dass wir das verdient hätten, der aber nun nicht tot ist, sondern der lebt, der darum nicht der Stellvertretung durch allerlei Nebenhäupter bedarf, der auch in der Gegenwart allein das Haupt seiner Gemeinde ist. Und ist er das Haupt, so sind alle Christen nicht mehr und nicht weniger als Glieder an seinem Leib: in verschiedenen und vielen Funktionen, aber alle in ein und demselben Leib, über dem und für den Christus das Haupt ist.

Von da aus versteht sich, dass die reformierte Kirche von den Anfängen im 16. Jahrhundert an bis in unsere Gegenwart so gestaltet ist, dass sie das Miteinander einer bunten Fülle von ziemlich verschieden orientierten Kirchen ist; die enthalten in sich drei unterschiedliche Typen: Reformierte, Presbyterianer und Kongregationalisten. Und auch nur die Reformierten in Deutschland kommen aus unterschiedlichen Traditionen: z.B. von den einst aus Frankreich vertriebenen Hugenotten oder von den aus dem strengen Luthertum ausgeschlossenen, von Luthers Freund Melanchthon geprägten Kirchen. Zeichen für jene eigentümliche Buntheit ist, dass diese Kirchen bis heute zwar allerlei Bekenntnisse haben: als Erinnerung daran, "damit auch ich Christi Namen bekenne", wie es der Heidelberger Katechismus bemerkenswerter Weise als erstes Merkmal des Christ-Seins nennt (Frage 32). Aber all die verschiedenen Kirchen, die zur reformierten Familie gehörten, halten es von Anfang an bis heute nicht für nötig, ein gemeinsames reformiertes Bekenntnis zu haben. Sinnvollerweise ist der Heidelberger Katechismus eine freie Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Ist die Vorherrschaft Jesu Christi auf allen Seiten anerkannt, dann darf es ruhig verschiedene Erkenntnisse unter den Christen geben und dann kann es unter ihnen auch Diskussionen geben über die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Von da aus versteht sich auch die für Reformierte bezeichnende Freiheit und Freudigkeit, Unionen mit nichtreformierten evangelischen Kirchen einzugehen. Sachliches Vorbild dafür ist die feine christliche Verbundenheit Calvins mit dem in manchem doch wahrlich anders gebauten lutherischen Reformator Philipp Melanchthon. Als Melanchthon gestorben war, trauerte er ihm nach mit der Erinnerung, wie jener einst sein Haupt in Calvins Schoß gelegt habe voll Kummer wegen der Zerrissenheit der evangelischen Kirche. [1] Es war denn kein Zufall, dass der Heidelberger Katechismus einträchtig von dem Melanchthon-Schüler Ursin und von dem Calvin-Schüler Olevian verfasst wurde. Und in diesem selben Geist gab es im 16. Jahrhundert das kühne Unternehmen von Johann a Lasco, in welchem in Ostfriesland reformierte Pastoren zusammen mit lutherischen eine einzige reformatorische Kirche bildeten. Voraussetzung waren die 15 Marburger Artikel von 1529, in denen Luther und Zwingli immerhin in 14 Artikeln einig waren, die dann aber bald vergessen waren - außer in Ostfriesland, wo man aufgrund dessen die These vertrat, dass das, worin beide Seiten einig waren, viel mehr und viel wichtiger sei als das, worin sie nicht einig waren; und sie verstanden das, worin sie nicht einig waren, darum nicht als Grund für ihre Trennung, sondern als Gegenstand für fortlaufende gemeinsame Gespräche.

Hierher gehört auch die Hoffnung, die Calvin in einem Brief an den anglikanischen Bischof Thomas Cranmer von Canterbury in England aussprach: die Hoffnung auf ein europäisches protestantisches Konzil, in dem alle Streitpunkte zwischen den verschiedenen evangelischen Kirchen beigelegt werden sollten. Zwar sei es Sache des Herrn der Kirche, schrieb er, so "wie er es von Anfang an getan hat, die Einheit des echten Glaubens vor Zerreißung durch menschlichen Zwist wunderbar" zu schützen. "Aber doch will er nicht, dass wir deshalb in dieser Aufgabe untätig seien" – angesichts dessen, "dass der Leib der Kirche mit zerstreuten Gliedern verstümmelt daliegt. Ich persönlich wollte mich nicht verdrießen lassen, wenn man mich [dabei] braucht, zehn Meere, wenn es sein muss, zu durchqueren."[2] Und als sich die Lutheraner und die Zürcher wegen der Abendmahlslehre voneinander trennten, schrieb Calvin zartfühlend, "der gemeinsame Fehler beider Parteien lag darin, dass sie nicht die Geduld hatten, aufeinander zu hören, um dann ohne Leidenschaft der Wahrheit zu folgen, wo sie auch gefunden werde." [3] Es liegt ja wohl an einer Beherzigung dieser Mahnung, wenn sich z.B. gegenwärtig in den Niederlanden die größeren reformierten Kirchen auf einen Prozess der Einigung mit der kleinen lutherischen Kirche eingelassen haben – unter dem eindrucksvollen Titel "Zusammen auf dem Weg".

Wir ersehen aus dem allem, dass die Reformierten wohl eine eigene Kirche bilden können, aber nicht bilden müssen. Gerade sie sind offen dafür, sich mit anderen Konfessionen zu einer Kirche zu verbinden, nicht weil Einheit an sich besser ist als Vielfalt, aber darum, weil die Kirchen nur ein Haupt haben und haben können, Jesus Christus. Und wenn sie sich mit anderen verbinden, dann, weil sie sich mit anderen darin einig sind, dass sie der – wohl vielgestaltige, aber der eine Leib des einen Hauptes der Kirche sind. In diesem Sinn heißt reformiert zunächst einfach: christlich.

2. Reformiert heißt: erneuert

Das ist nun der wörtliche Sinn des Wortes "reformiert". Es hängt zusammen mit dem Wort "Reformen" und heißt so viel wie eben: erneuern. Aber was heißt das: "erneuern"? Heißt das: modernisieren, mit der Zeit gehen, sich anpassen an eine neue und andere Situation? Und heißt das dann negativ: sich verabschieden von dem, was einem überholt erscheint, und das wegschneiden, was einem wie ein alter Zopf vorkommt? Es mag, es wird und darf so sein, dass in einer ernsthaft reformierten Kirche dergleichen nebenbei auch zuweilen passiert. Aber wo dergleichen zur Hauptsache wird, ist das ein Kennzeichen dafür, dass die wirkliche Hauptsache zur Nebensache geworden ist. Es gibt Kirchen, die irgendwie mit der Zeit gehen und fortwährend an so genannten alten Zöpfen herumschnippeln, ohne dass sie darum ernstlich reformiert sind; sie können so auch das Gegenteil davon sein. Und es gibt Kirchen, die ein bisschen altertümlich wirken und doch ihrer Gegenwart Wichtigstes zu sagen haben. – Oder heißt reformiert, erneuert, noch allgemeiner einfach: offen sein, offen für vieles, offen für eine bunte Vielfalt, in der man es so oder auch das Gegenteil davon sagen und machen kann, in der alle sozusagen alles tolerieren? Offen in dem Sinn, dass man frei ist vor allem anderen von so genannten engen Konfessions-Bindungen, frei in einem dann gar bekenntnislosen Christentum, so frei, dass jede beliebige religiöse Äußerung eines Menschen mit reformiertem Taufschein auch als reformiert gilt, so frei, dass am Ende dann nur die, die da ein Fragezeichen anbringen, als problematisch erscheinen? Es gibt gerade heute gerade unter Reformierten solche Gedanken. Und es mag typisch sein, dass ein Kreis von Zürcher Pfarrern und Pfarrerinnen letzthin ihren Kirchenaustritt erklärt haben für den Fall, dass ein kirchliches Bekenntnis irgendwie wieder in ihre Gottesdienstliturgie eingeführt werde.

Solche Überlegungen beruhen allerdings auf einem Kurzschluss. Denn es wird dabei außer Acht gelassen, dass der Ausdruck "reformiert" nur eine Kurzformel ist, die genauer so lautet: "Die nach Gottes Wort reformierte Kirche". Es geht in ihr demnach nicht, jedenfalls nicht primär, um eine Anpassung an veränderte, neue Zeitumstände, sondern es geht in ihr um eine neue Hinwendung in vielleicht veränderten Zeitumständen an das Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Und es geht in der "nach Gottes Wort" reformierten Kirche nicht um eine frei schweifende Offenheit für dies und das, – wobei man vorauszusetzen pflegt, dass das Wort Gottes für das uns dabei Erwünschte selbstverständlich zur Verfügung steht, so dass man es eigentlich ... auch ohne das machen könnte! Es geht vielmehr vor allen anderen Dingen um eine allererst von Gott zu erbittende und von Gott gnädig geschenkte Offenheit für sein Evangelium und für sein Gebot. Ob in der Kirche das verstanden ist, das bekundet sich schlicht in dem Wissen, dass sie, die Kirche, nicht sich selbst gehört – und dementsprechend in dem Wissen, dass sie in der Gegenwart nicht neu zu erfinden ist, sondern lebt, wenn sie lebt, in der Verbundenheit mit den Vätern und Müttern der vorangegangenen christlichen Kirche und speziell der Konfession, in die man gestellt ist. Das alles zeigt, dass die Kirche aus dem Tritt geraten, ja, dass sie abirren kann von dem Grund, auf dem sie doch erbaut ist. Und dann sieht sie vielleicht immer noch eindrücklich aus, erfreut sich eines gewissen Ansehens bei den Leuten und ist doch wenigstens stolz auf sich selbst; aber sie merkt nicht einmal, dass der Herr der Kirche nicht bei ihr ist, sondern dass sie ohne ihn ihr Werk treibt. Die Kirche reformieren, sie erneuern, das heißt – und das hieß in den Vorgängen des 16. Jahrhunderts, erschrocken eben dies merken, was zuvor in ihrem vielleicht rauschenden Betrieb gar nicht bemerkt wurde: dass der Herr der Kirche sich ihrem Treiben entzogen hat. Und die Kirche reformieren, sie erneuern, das heißt und das hieß damals, dies begreifen und damit ernst machen, was Jesus in Mt. 7 sagt: "Wer meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Menschen, der sein Haus auf einen Felsen baute", so dass es kein Sturm und Regen umstoßen konnte. Und also die Kirche reformieren, sie erneuern, das heißt und das hieß damals, nicht eine neue Kirche gründen noch eine alte renovieren, sondern auf das Wunder bauen und trauen, dass durch Gottes Gnade und Gegenwart und im Grunde allein dadurch die Kirche christliche Kirche wird.

Wir müssen einen Schritt weitergehen. Die lateinische Formel "ecclesia reformata", d.h. reformierte oder erneuerte Kirche, wurde im 17. Jahrhundert sinnvoll erweitert zu der Formel "ecclesia reformata semper reformanda", zu deutsch: die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren oder zu erneuern. Was heißt nun das? Das heißt nicht, wie man unter Reformierten manchmal töricht meint: dass die Kirche mit der Zeit zu gehen hat. Auch diese Formel ist eine Abkürzung und lautet vielmehr so: "Die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren nach Gottes Wort." Damit wird klar, was die Formel meint. Sie sagt: Wir sind in Wahrheit damit noch nicht reformiert, dass unsere Vorfahren reformiert waren. Dass unsere Kirche vor bald 500 Jahren eine durch und nach Gottes Wort erneuerte Kirche wurde, das bedeutet nicht, dass wir das einfach ererben können. Wir sind ihres Geistes Kinder, wir stehen in ihren Fußstapfen, wir gehen mit ihnen Hand in Hand wirklich nur dann, wenn die Erneuerung der Kirche nach Gottes Wort sich erneut unter uns vollzieht: erneut unter Anpassung zuerst nicht an veränderte Zeitumstände, sondern zuerst an das lebendige Wort Gottes. Und dass es lebendig ist, das heißt ja, dass es nicht nur damals geredet hat, sondern dass wir es erst dann hören, wenn wir hören, dass es gegenwärtig zu uns und zu den Völkern redet. Lebendiges Wort heißt nicht, dass Gott uns immer wieder etwas anderes sagt. Das heißt, dass Gott immer wieder dasselbe aufs Neue sagt. Im Hören darauf ist die Kirche so nicht auf irgendeine Vergangenheit festgenagelt, lebt mit Gott und unter dem Schatten seiner Flügel in der jeweiligen Gegenwart. Und so ist sie im Hören darauf das wandernde Gottesvolk, nicht einfach, weil die Zeiten sich ändern und weil damit auch sie sich ändert. Sie ist wanderndes Gottesvolk, weil in den sich ändernden oder auch wenig genug sich ändernden Zeiten Gott unterwegs ist und seine Gemeinde mit ihm unterwegs sein lässt.

Das einprägsame Bild für das alles sind die Hugenotten des 17. Jahrhunderts. Sie waren keineswegs sture und starrsinnige Typen. Sie waren gewiss auch in ihrer Zeit moderne und für ihre Zeit offene Menschen. Aber wären sie nur das gewesen, so wäre ihnen ihr bitteres Schicksal erspart geblieben. Was sie uns unvergesslich macht, war das, was sie begriffen hatten und wozu sie oft genug zitternd, auch versagend, aber dann auch mutig standen – nämlich dies, dass alles darauf ankommt, zuerst und vor allen Dingen offen zu sein für das Wort und den Willen Gottes und dem alles Weitere klar und entschieden nachzuordnen. Und so haben sie in Frankreich, als ihnen ihre Kirchen genommen wurden, sich in Wäldern versammelt, nicht ohne eine behelfsmäßige Klappkanzel mitzunehmen, um damit anzuzeigen, dass sie alle diesem Wort des Herrn folgen dürfen und folgen müssen. So haben sie es aber auch auf sich genommen, um ihres Glaubens willen jahrelang im Gefängnis auszuharren, wie die bekannte Marie Durand, die in die Wand ihrer Haftzelle ritzte: Résistez! Oder sie wurden auf Galeeren gesteckt, wurden ihrer Kinder beraubt, ja, wurden sogar getötet oder mussten ihre Heimat verlassen. Aber sie nahmen das in Kauf, weil sie mit dem einen ernst machten, dass die Kirche nur dann Kirche Jesu Christi ist, wenn sie zuerst nach Gottes Wort erneuerte und gemäß seinem Wort sich immer wieder erneuernde Kirche ist.

3. Zur reformierten Glaubensauffassung

Es gibt Eigentümlichkeiten des reformierten Verständnisses der biblisch bezeugten Glaubenswahrheit, das bei allen Unterschieden unter den Reformierten in der Regel da hervortritt, wo sie hervortreten – Eigentümlichkeiten ihrer Erkenntnis, die gewiss nicht auf ihre Tradition und Konfession beschränkt sein muss, sondern die auch von anderen Christen vertreten werden kann und manchmal sogar, gottlob, von anderen besser als von Gliedern der eigenen Konfession – Eigentümlichkeiten einer Einsicht in das uns gemäß der Heiligen Schrift von Gott Offenbarte, von dem Reformierte nicht wollen dürfen, dass das unter Christen vergessen oder missachtet wird, von dem sie auch wollen, dass das von Christen in anderen Konfessionen wahrgenommen und angenommen wird. Um dieser Eigentümlichkeiten willen sind die Reformierten dankbar, dass sie da sein dürfen, und zugleich gewillt, neben den anderen christlichen Konfessionen nicht zu verschwinden. Diese Eigentümlichkeiten prägen ihr Denken und Leben. Für deren Beachtung treten sie ein, gleich, ob sie selbständige Kirchentümer bilden oder ob sie sich mit anderen Konfessionen verbinden. Die naheliegendste Form des Verhältnisses zu anderen Konfessionen ist dabei – weder eine sture Separation von ihnen noch ein unbedachtes Sich-Auflösen in ihnen, sondern die Kirchengemeinschaft mit ihnen. So können ihre Erkenntnisse der biblischen Botschaft und die ihnen gemäßen praktischen Gestaltungen des kirchlichen Lebens gepflegt wie zum Segen der Ökumene der christlichen Kirchen wirksam werden. Was sind diese Eigentümlichkeiten reformierter Erkenntnis? Ich suche sie in vier Punkten zu zeigen:

1. Unter das Hauptwerk Calvins: "Unterricht des christlichen Glaubens" hat der Verfasser die zwei Worte gesetzt: Laus Deo, d.h.: Gott sei gelobt oder: Ehre sei Gott. Das ist mehr als ein Seufzer der Erleichterung, dass dieses riesige Werk nun glücklich abgeschlossen ist. Das bezeichnet in zwei Worten die Perspektive, in der das gesamte Nachdenken über den Gehalt des christlichen Glaubens stattgefunden hat und stattfinden musste. Die zwei Worte sagen dasselbe wie das Soli Deo gloria, mit dem die Reformierten gern die zwei so genannten Solismen der lutherischen Reformation ergänzt haben: sola gratia - sola fide, d.h.: allein aus Gnade, allein durch den Glauben – und jene erstere Formel heißt eben: allein Gott die Ehre. Die Formel "allein Gott die Ehre" ist darum nötig, um deutlich zu machen, dass nicht etwa der Mensch im Zentrum des christlichen Denkens steht und Gott nur der Zulieferant für seine Bedürfnisse ist. Der Mensch bekommt ihn nie in seine Hand, sondern bleibt ständig darauf angewiesen, dass Gott sich ihm gibt - darum haben die Reformierten das biblische Bilderverbot stets ernst genommen, nicht weil Gott so weit weg, sondern weil er so lebendig ist, und sie sind dadurch nicht zu Kunstverächtern geworden, wie die niederländische Malerei des 17. Jh. beweist. Und eben Gott, Gott allein, steht im Zentrum, Gott gewiss nicht ohne den Menschen, dem er sich zuwendet, aber so, dass dabei Gott regiert und der Mensch ihm folgt und nicht umgekehrt. Dabei ist für Reformierte klar, dass von Gottes Herrschaft nicht abstrakt geredet werden darf, so als wäre Gott ein Herrscher nach Art weltlicher absoluter Mächtiger, nur noch mächtiger. Gott unterscheidet sich darin von solchen bloß Mächtigen, dass er – der liebe Gott ist. Ja, sagt Calvin: "Wo Gott bleibt, da muss zugleich die Liebe blühen." Aber – Gottes Liebe ist keine andere "als eine freie" Liebe. [4] Das heißt auch, dass Gott nicht gezwungen werden kann, uns zu lieben. Das heißt aber ebenso, dass Gottes Liebe nicht bloß ein Beispiel für das ist, was wir unter den Menschen schon als Liebe kennen und üben und schätzen. Gottes Liebe ist Gottes Liebe, in ihrer Art ganz etwas Eigenartiges und Einzigartiges und so Grund für alle Liebe, so dass, wenn wir sonst Liebe erfahren, das ein fernes Gleichnis ist für die Liebe Gottes. Gott ist in seiner Liebe frei und bleibt in seiner Liebe frei – frei, zu bestimmen und je neu zu bestimmen, worin denn seine Liebe zu den Seinen besteht. Insofern ist Gott nicht souverän und dann vielleicht hier und da einmal auch lieb. Gott ist in seiner Liebe souverän, wie er in seiner Souveränität die Liebe ist. Gerade in der besonderen Art seiner souveränen Macht bekräftigt Gott nicht etwa irdische Mächte in ihrem Absolutheitsdrang, so relativiert er sie gründlich. So dass wir, auch wenn diese Mächte sich absolut geben, ihnen nicht glauben müssen und ihnen nicht folgen dürfen. Folgen dürfen und müssen wir immer und gerade dann einem anderen, diesem anderen, dem einzigen, der wirklich souverän ist, souverän in seiner Liebe, dem einzigen – wie Reformierte selbst in schlimmer Unterdrückung und Verfolgung glaubten und bekannten =, dem alle sich noch so aufplusternden irdischen Mächte untertan sind. Und die Christen haben allein ihm zu folgen, und zwar buchstäblich zu folgen, so wie Abraham, der herausgerufen wurde von Gott aus seiner Verwandtschaft, und so wie die Israeliten, die hinausgeführt wurden von Gott aus dem ägyptischen Sklavenhaus, um unterwegs zu sein in ein Land, das Gott ihnen zeigen will.

2. Die Heilige Schrift ist das Zeugnis, durch das wir von diesem Gott wissen, und zwar, worauf alles ankommt, allein die Heilige Schrift. So sagen es Reformierte zusammen mit den Lutherischen. Sie haben das im 16. Jahrhundert zunächst gegen die römische Lehre gesagt, die damals erklärte: Schrift und kirchliche Tradition seien die für den christlichen Glauben verbindlichen Quellen. Demgegenüber war man sich unter den Evangelischen im Prinzip darin einig – nicht dass die Tradition überflüssig, aber dass sie mit allen kirchlichen Erklärungen und Bekenntnissen der Schrift untergeordnet und an ihr zu prüfen sei. Daran ist auch heute festzuhalten, wo es an diesem Punkt auch unter den Evangelischen auf einmal törichte Aufweichungen gibt, indem man alles, was die Bibel und was die Kirchengeschichte sagt, unter den Titel "Tradition" stellt. Aber das einmal dahingestellt, es gab und gibt da einen kleinen Unterschied zwischen lutherisch und reformiert: Während die Ersteren meinen, die Prüfung der Übereinstimmung des Bekenntnisses mit der Bibel sei mit der Verlautbarung des Bekenntnisses bereits abgeschlossen, meinen Reformierte: Es kann jederzeit solche Prüfung im Prinzip wiederholt werden. Doch auch das mag jetzt auf sich beruhen, weil ein anderer Punkt noch wichtiger ist. Beide Seiten sind sich einig, dass wir nicht an die Heilige Schrift glauben; sondern sie ist Zeugnis von dem, an den wir Christen glauben. Aber in der lutherischen Konfession gibt es die Neigung zu der Meinung, dass sich der Kern der Schrift: der in ihr Bezeugte, aus der Schale der Schrift, in die er gebettet ist, herausnehmen lässt, nämlich so weit, dass wir bestimmt sagen können: In diesen und diesen Texten, etwa im Galater- und Römerbrief wird das Gotteswort uns direkt handgreiflich entgegengetragen, während es weite Passagen in der Schrift gibt, in denen das weniger oder kaum oder gar nicht der Fall ist – etwa im Jakobusbrief im Neuen Testament oder im 2. Petrusbrief oder in weiten Teilen des Alten Testaments. Diese Überlegung ist den Reformierten fremd. Für sie lässt sich der Kern der Schrift, der in ihr Bezeugte, nicht so trennen von einer bloßen Schale. Man hat die Reformierten dafür Biblizisten gescholten und damit verraten, dass man die reformierte Überlegung dabei missachtet hat. Die Meinung ist nicht, dass wir im Zeugnis der ganzen Schrift jederzeit und überall das Wort Gottes nur so greifen können. Die Meinung ist, dass man die ganze Schrift als das Feld anerkennen soll, auf dem Gottes Wort uns entgegentreten und hörbar werden kann. Darum sollen wir immer weiter und weiter in ihr suchen mit der Bitte zu Gott, dass er uns das Ohr öffne und zeige, inwiefern er hier und hier durch das Zeugnis der Schrift zu seiner Gemeinde redet, vielleicht doch nicht immer nur durch den Galaterbrief des Paulus, sondern jetzt durch die Bergpredigt im Matthäusevangelium oder jetzt vielleicht auch durch das 3. Buch Mose. Darum ist es in der reformierten Kirche weniger üblich, nur nach den ausgewählten Perikopen zu predigen. Statt dessen findet sich da eine Predigtpraxis, in der fortlaufend ganze biblische Bücher ausgelegt werden. Und darum sehen Reformierte traditionell die beiden Testamente enger beisammen als im Luthertum. Und darum müssen sie in der Lesung oder im Gesang der Psalmen nicht einen neutestamentlichen Schluss anhängen, um sie damit für Christen allererst gebrauchsfähig zu machen. Die Genfer Psalmengesänge reimen den Text einfach so, wie er dasteht, so dass diese Gesänge heute von Christen und Juden gemeinsam gesungen werden können. Überhaupt meinen die Reformierten, dass das Alte Testament ganz und gar Gottes Wort ist und dass wir ohne es auch das Neue Testament nicht recht verstehen können. Dieser Gedanke ist so tiefsitzend, dass das Wissen um die heilsgeschichtliche Verbundenheit der Christen mit den Juden hier naheliegender war als in anderen Konfessionen.

3. Eine eigene Erkenntnis haben die Reformierten auch hinsichtlich des Verhältnisses der Größen: Evangelium und Gesetz. Das Thema dieses Verhältnisses ist ja erst in der Reformation entdeckt oder neu wiederentdeckt worden. Warum? Nun, die Reformatoren erklärten, dass der Mensch allein aus Gnade durch den sich ganz an diese Gnade haltenden Glauben gerettet wird und nicht durch Verdienst seiner Werke. Das ist eine so gute und heilsame Wahrheit, dass auch die Reformierten sie mit den Lutheranern voll und uneingeschränkt bejahen. Denn das ist so befreiend, wissen zu dürfen, dass Gott Ja zu uns sagt, bevor wir vermeintlich ein bisschen Rechtes getan haben, dass er Ja zu uns sagt, auch wenn wir böses Pfuschwerk geleistet haben, dass er auch Ja sagt zu den Menschen, die wir als hoffnungslos aufgegeben haben. Aber wenn wir das einmal anerkennen, dann fragt sich: Was ist denn der Sinn des Gesetzes Gottes und seiner Gebote? Warum gebietet uns Gott dies und das, wenn es doch gar nicht nötig ist, das zu tun, damit Gott uns liebt? In der Antwort auf diese Frage sind Lutheraner und Reformierte dann verschiedene Wege gegangen. Lutheraner rücken das Gesetz möglichst weit vom Evangelium weg, und sie unterscheiden dabei nicht, ob Gott oder Menschen dieses Gesetz formulieren. Sie sagen, das Gesetz zwinge uns äußerlich zu einem anständigen bürgerlichen Leben, und es treibe uns innerlich zu dem Schrecken darüber, dass wir uns selbst nicht durch unser Tun retten können. Die Reformierten sind hier für eine andere Einsicht eingetreten und haben dabei eine ganze Menge biblische Partien genannt, auf die sie sich beziehen können. Richtig, wir können uns nicht durch unser Tun retten. Aber um das klarzustellen, müssen wir nicht das Gesetz so schwarz malen. Denn das Gesetz Gottes, das auf jeden Fall von menschlichen Gesetzen zu unterscheiden ist, hat im Grund eine helle Bedeutung. Man höre, wie der Heidelberger Katechismus in Frage 91 erklärt, was gute Werke sind: "Allein solche, die aus wahrem Glauben nach dem Gesetz Gottes ihm zur Ehre geschehen, und nicht solche, die auf unser Gutdünken oder auf Menschengebote gegründet sind"! Das Gesetz Gottes ist hier nicht als schrecklicher Gegensatz zum Evangelium von Gottes Gnade verstanden, sondern als dessen Bestätigung. Es sagt etwas, was menschliche Gesetze so eben nicht sagen – nämlich dies: Gott lässt die Menschen, die er begnadigt, nicht mehr los und überlässt sie nicht sich selbst noch den gottlosen Gesetzen der "Welt". Das Gesetz Gottes ist seine Einschärfung, dass wir Gott gehören und dass es darum eine gute Sache ist, in unserem Tun es zu bejahen und zu zeigen, dass wir ihm gehören und also weder uns noch irgendeinem anderen. Luther hat bei seiner Auslegung der Zehn Gebote leider vergessen zu sagen, dass sie in Ex. 20,2 so beginnen: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat." Für Calvin ist dieser Satz der Schlüssel zum ganzen Text der Zehn Gebote. Denn dadurch wird klargestellt, wie Gottes Gebote zu verstehen sind, nämlich so, sagt er, "dass sein Volk von der elenden Knechtschaft dazu frei geworden ist, damit es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre". [5]

4. Von den letzteren Ausführungen her lässt sich verstehen, dass eine auch noch typische Erkenntnis der Reformierten von ihren Anfängen an die Lehre vom Bund Gottes ist. Auffällig daran ist zunächst, dass dabei die Vorstellung korrigiert wird, als habe Gott zwei Bünde geschlossen, einen alten mit Israel, der dann überholt und abgeschafft worden sei durch einen neuen Bund, der nun in die christliche Kirche weist. Hören wir, wie schon Calvin vielmehr Folgendes sagt: "Der Bund mit den Vätern (im Alten Testament) ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unterscheiden, sondern ein und dasselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung" desselben einen Bundes, der in Christus zusammengefasst ist.[6] Hier wird auf eine noch andere Weise die Verbundenheit der Testamente und damit des Volkes Israel und der Kirche ausgesagt. Um diese Verbundenheit auszusagen, ist freilich beim Begriff des Bundes eine Klärung nötig, die der sonstigen Vorstellung von einem Bund zuwiderläuft. Es ist bei dem biblischen Gottesbund gerade nicht so, als würden zwei mehr oder weniger vergleichbare, gleichberechtigte Partner sich auf ein Zusammenspiel einigen. Der Mensch schon als bloßes Geschöpf seines Schöpfers und der Mensch erst recht als in die Sünde gefallener Angeklagter vor dem höchsten Richter kommt nun einmal als solcher Partner nicht in Betracht. Der Bund, von dem hier die Rede ist, ist vielmehr durch und durch ein Gnadenbund. Er ist ganz einseitig von Gott, eben aus dessen reiner Gnade begründet. Allerdings begründet, damit er ein zweiseitiger Bund werde: der Bund, in dem Gott vorangeht und der Mensch ihm folgt, der Bund, in dem Gott in seinem Wort zu seinem Partner spricht und in dem der Mensch daraufhin Gott Antwort gibt. Der einseitig begründete Bund wird ein zweiseitig erfüllter, indem Christus an unsere Stelle tritt und unsere Sünde wegnimmt. An unsere Stelle, damit wir – mit ihm und wie er – mit Gott, seinem Vater, verkehren dürfen! Hier wird nun auch das einseitige Verständnis der Gnade Gottes korrigiert, nach dem Gott allein der Aktive und der Mensch zur bloßen Passivität verurteilt ist. Gerade die reine Gnade Gottes ist auf die aktive, dankbare Antwort von Menschen ausgerichtet. Gott will aus Gnade in seinem Bund nicht alles allein tun. Er redet, aber er will auch hören, dass wir mit ihm reden. Er tut das Seine, aber er wartet darauf, dass wir re-agieren. Und hier ist in der Tat in der Mehrzahl zu sprechen. Der Partner Gottes in diesem Gnadenbund ist nach reformierter Erkenntnis nicht dieses und jenes Einzelindividuum, sondern die Gemeinde Gottes, in der die Gläubigen versammelt sind. In ihr sind alle Versammelten beauftragt und befähigt, sich aktiv zu beteiligen – im Verkehr mit Gott als seine Kinder und im Verkehr mit anderen Kindern Gottes als ihre Geschwister: nicht so, dass das nur einigen amtlichen Aktivisten überlassen ist und die anderen sich von ihnen bedienen lassen, sondern so, dass ein jeder und eine jede zu solchem Dienst ordiniert ist! So, wie es der Heidelberger Katechismus in Frage 55 deutlich und schön sagt: "Was verstehst du unter der Gemeinschaft der Heiligen? Dies: Alle Glaubenden haben als Glieder Gemeinschaft an dem Herrn Christus und an allen seinen Schätzen und Gaben. Darum soll auch jeder seine Gaben willig und mit Freuden zum Wohl und Heil der anderen gebrauchen."

"Was heißt reformiert?" Wenn wir uns auf den gezeigten vier Linien klar machen, wofür das Wort "reformiert" steht, dann gibt es wohl viel mehr "Reformierte" als die, die sich zu dieser Kirche zählen. Und dann haben die, die sich zu ihnen zählen, keine Sonderexistenz, außer der zum Segen aller christlichen Kirchen.

 

Fußnoten:

[1] De vera participatione Christi in Coena, in: Calvini Tractatus theologici omnes, Amsterdam 1667, 724.

[2] Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, Neukirchen 1962, 595f.

[3] Calvin, Kleiner Abendmahlstraktat (1541), Calvin-Studienausgabe 1,2, Neukirchen-Vluyn 1994, 491, 27-29.

[4] Auslegung der Heiligen Schrift, 14, 384, 353.

[5] Calvin, Institutio, II 8,15.

[6] A.a.O., II 10,2.

 


Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Busch, Göttingen
E-Mail: ebusch@gwdg.de


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