Was heißt lutherisch?

Versuch einer Wesensbestimmung

Gottfried Brakemeier

1. Das Evangelium als Ursprung der Kirche

Formal betrachtet meint „lutherisch“ eine geschichtlich gewordene Gestalt des christlichen Glaubens. Sie geht zurück auf den Augustinermönch Martin Luther, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland eine Reformbewegung entfachte, aus der Kirchen lutherischen Bekenntnisses hervorgegangen sind. Der Anstoß war der Einspruch gegen zahlreiche Missstände in der Kirche jener Zeit. Da diese sich den Reformbestrebungen verschloss, vielmehr Luther exkommunizierte und sich dem Ruf nach Einberufung eines allgemeinen Konzils versagte, kam es zur Trennung von der Papstkirche. Versuche, die Spaltung zu verhindern, schlugen fehl. Auf dem Augsburger Reichstag 1530 legten die Anhänger der Reformation erstmals ihr von Philipp Melanchthon formuliertes Bekenntnis öffentlich vor. Aber die Fronten waren zu verhärtet, als dass es zu einer Einigung hätte kommen können. Seitdem bezeichnet „lutherisch“ eine Variante des Christseins mit eigenem Profil.

Zunächst hatte sich Luther dagegen gesträubt, seinen Namen zur Bezeichnung einer kirchlichen Gruppierung herzugeben. Doch musste er sich davon überzeugen, dass der Begriff „christlich“ zu allgemein und vage sei; viel Gegensätzliches lässt sich hinter ihm verbergen. Daher entstand eine Kirche, die sich lutherisch nannte und damit zu erkennen gab, dass sie sich dem Erbe des großen Reformators verpflichtet wusste.

Das bedeutet indes nicht, dass Luther der Rang einer unfehlbaren Lehrautorität zugeschrieben werden dürfte. Der Abstand der Zeiten und das Menschliche, das einer jeden großen Gestalt anhaftet, erfordern eine kritische Lutherrezeption. Maß und Quelle des christlichen Glaubens in lutherischer Ausrichtung bleibt allein Jesus Christus. Zu ihm wollte Luther den Weg weisen.

So versteht sich lutherische Kirche denn auch nicht als eine „neue“ Kirche; im Gegenteil, es geht um die wahrhaft „evangelische“ Kirche, gebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten (Eph 2,20). Lutherische Kirche ist nicht in Wittenberg entstanden, sondern vor zweitausend Jahren in Jerusalem, durch das Wirken des Heiligen Geistes. Ihrem Selbstverständnis nach ist sie Teil der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“, wie es das altkirchliche Glaubensbekenntnis artikulierte (381; Nizäa-Konstantinopel). Auch lutherische Kirche ist katholisch, wenngleich nicht römisch.

Was diese Kirche trägt, ist die unbedingte Treue zur apostolischen Tradition. Diese findet sich in der Heiligen Schrift. Luther war „Bibelwissenschaftler“ und ist als solcher zum Reformator geworden. Auf dem Reichstag in Worms 1521 hat er sich bereit erklärt, alle seine Schriften zu widerrufen, falls ihm mit biblischen Argumenten Irrtum nachgewiesen werden sollte.

Die Heilige Schrift als das apostolische Dokument schlechthin ist für das lutherische Bekenntnis die höchste Norm – dies jedoch nicht im buchstäblichen Sinn. Ihre Normativität besteht in der Bezogenheit auf Christus, von dem sie kündet. Was nicht Christus „treibet“, so der Reformator (WA.DB 7,384), ist nicht apostolisch, auch wenn Petrus oder Paulus es gesagt hätten. Das Evangelium von Jesus Christus ist die Mitte der Schrift und damit das Prinzip ihrer Auslegung.

In diesem Evangelium hat die Kirche ihren permanenten Ursprung. Sie ist „creatura evangelii“, Geschöpf des Evangeliums, wie Luther es ausdrückte (WA 2,430,6f.). Wo das Wort Gottes gepredigt wird und die Sakramente recht ausgeteilt werden, da entsteht die Gemeinschaft der Gläubigen. Zwar ist die wahre Kirche menschlicher Analyse unzugänglich; da nur Gott die Herzen kennt, ist sie verborgen und kann nur geglaubt werden. Aber sie wird sichtbar in dem, was der Grund ihrer Existenz ist, also in Wort und Sakrament.

Als weitere Zeichen wahrer Kirche konnte Luther etwa auch die Handhabung der Schlüsselgewalt – das heißt der Beichte und der Absolution – benennen, die Berufung kirchlicher Amtsträger sowie die Erfahrung des Kreuzes. Entscheidend aber bleiben die Verkündigung und das Sakrament. Durch sie geschieht die Vermittlung des Evangeliums, deren sich der Heilige Geist bedient, um Glauben zu wecken – gleichwie es das Pauluswort im Römerbrief (10,17) besagt: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“

2. Das Wort und der Glaube

Lutherische Kirche hat sich darum stets als „Kirche des Wortes“ verstanden. Mögen andere Kirchen die Sichtbarkeit religiöser Symbole oder die direkte Geisterfahrung in den Vordergrund rücken, für die lutherische Reformation war und ist das Wort Gottes die entscheidende Kategorie.

Religiöse Exerzitien, Prozessionen, Reliquienkult und andere Rituale werden kritisch hinterfragt und großenteils abgeschafft. Stattdessen werden Katechese, Predigt, Bibelstudium und theologische Bildung der Gemeinde zum Merkmal echter Christlichkeit. Das wurde seinerzeit als Befreiung von einer weitgehend als leer erachteten Frömmigkeit empfunden. An die Stelle des Heiligenkultes, des Rosenkranzes und anderer Formen religiöser Praxis, zu denen heute [in Pfingst- und Charismatischen Gemeinden] auch die Zungenrede gehört, trat der Katechismus. Luther wollte den bewussten Glauben. Ihm jedoch fehlt ohne das biblische Wort die Luft zum Atmen.

Die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache entsprach darum einem theologischen Programm. Alle – und zwar ohne Ausnahme – sollten Zugang zur Quelle des Glaubens haben. Hier sind „Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Hier findet man das Zeugnis von Jesus Christus, in dem „das Wort“ Gottes endgültig „Fleisch“ geworden ist (Joh 1,14). Es versteht sich ohne weiteres, dass eine solche Wertschätzung der Bibellektüre Auswirkungen hatte – haben musste – auf das Bildungswesen überhaupt. Nach lutherischer Überzeugung gehört Schule zum Grundrecht des Menschen. In einer christlichen Gemeinde darf es keine Analphabeten geben.

Wie wenig das Wort, um das es lutherischer Kirche geht, auf ein bloß akustisches Phänomen reduziert werden darf, erhellt aus der Identifizierung des Wortes Gottes mit der Person Jesu Christi. Natürlich ist „das Wort“ Rede, Zeugnis, Bekenntnis. Es will proklamiert, verkündigt und darum gehört und gelernt werden. Trotzdem ist es mehr als ein Diskurs oder ein Dogma. Es ist die Kraft Gottes, die Wunden heilt, Sünden vergibt, Leben schenkt.

„Am Anfang war das Wort“, heißt es im Johannes-Evangelium, „alle Dinge sind durch dasselbe geschaffen (Joh 1,1.3). Wort und Tat dürfen darum nicht auseinander gerissen werden. Das ist vor allem bei Jesus von Nazareth zu lernen. Seine „Praxis“ ist nicht weniger bedeutsam als seine „Lehre“. Zum gesprochenen Wort gehört die Geste, das „beredte“ Zeichen, die konkrete Zuwendung. Ohne Tat wird das Wort unglaubwürdig, ohne Wort bleibt die Tat stumm.

Nicht zuletzt gehört zum Evangelium das Geschick Jesu: sein Leiden, sein Kreuz und seine Auferstehung. Diese Geschichte ist „für uns“ geschehen. In ihr kommt Gott den Menschen so nahe, wie das vorher noch nicht geschehen ist – und er offenbart sich als Gott der Liebe.

Es brauchte geraume Zeit, bis Luther das traditionelle Bild vom strafenden Gott überwunden hatte. Mit der Entdeckung, dass „Gottes Gerechtigkeit“ (Röm 1,17) nicht jene ist, die den Menschen verdammt, sondern die, die ihn annimmt und gerecht spricht, nahm die Reformation ihren Anfang. Gott wird offenbar als der barmherzige Gott, der seine arme Kreatur nicht verstößt, sondern sie sucht und ihr die Schuld vergibt. Bei Gott darf man sich wohl und aufgehoben fühlen.

Seither ist die „Rechtfertigung allein aus Gnade und Glaube“ der Hauptartikel des lutherischen Bekenntnisses. Wohl haben sich die geistigen und religiösen Bedingungen seit dem 16. Jahrhundert gewandelt; die Sündenskrupel von einst sind einer ihrerseits problematischen Indifferenz gegenüber der Sünde gewichen. Gleichwohl bleibt die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders für das Verständnis des Evangeliums grundlegend – zwar nicht als dogmatisches Gebäude, jedoch um ihres Gehaltes und Gewichtes willen.

Sie definiert das Gottesbild so, wie dies bei Luther zu beobachten ist. Es geht um den barmherzigen Gott, der den Menschen annimmt „ohne Verdienst und Würdigkeit“ (Kleiner Katechismus, Erklärung zum 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses). Der Mensch wird von der Last befreit, seinen Wert durch eigene Anstrengung beweisen zu müssen. Rechtfertigung meint nicht allein Vergebung der Sünde, sondern zusammen mit ihr Zuspruch von Daseinsrecht und Würde. Sie verweist auf die Gratuität, die freie Zuwendung Gottes zum Menschen, der sich das Menschsein verdankt.

Luthers Frage nach dem gnädigen Gott war deshalb nicht der zeitgebundene Ausdruck einer gequälten Seele. Sie artikuliert die Sorge der menschlichen Existenz als solche: „Gibt es Gnade in dieser Welt, oder muss man sich mit der Herrschaft der Brutalität abfinden?“ Ein grausamer Gott richtet die Welt zugrunde. Das aber ist nicht der Gott Jesu Christi, der den Menschen aus Gnade rechtfertigt.

Damit – und insofern – wird das Gottesbild unmittelbar relevant für das Menschenbild: Woher bezieht der Mensch seine Würde? Worin besteht der Sinn seiner Existenz? Welches ist die Instanz, die ihn hält und trägt? Das Wort von der Rechtfertigung gibt Auskunft.

Von dem Menschen, dem die Liebe Gottes gilt, wird nichts anderes erwartet als der Glaube. Er ist die einzig angemessene Reaktion auf diese Liebe. Dem „sola gratia“, allein aus Gnade, wenn es konsequent gedacht ist, kann nur das „sola fide“, allein aus Glauben, entsprechen. Wer meint, den Glauben durch das Wissen ersetzen zu können, hat noch nicht begriffen, worum es geht.

Natürlich hat auch der Glaube eine Erkenntnis, aber er besteht wesentlich im Vertrauen – Vertrauen, das sich auf Gottes Barmherzigkeit stützt. Es entsteht ein neues Verhältnis zu Gott, das sich in der Anrufung „Unser Vater“ bekundet.

Wie jedes Vertrauen hat auch der Glaube seinen Ursprung in der Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers. Der Glaube entsteht, mit Luther zu reden, nicht aus eigener „Vernunft noch Kraft“ (Kleiner Katechismus, Erklärung zum 3. Artikel des Glaubensbekenntnisses), sondern durch die Bekanntschaft mit dem Evangelium. Er ist Gottes Werk in uns.

Das geweckte Vertrauen freilich soll in einem neuen Verhalten Gestalt gewinnen. Glaube will gelebt werden, in Gebet und Christus-Nachfolge, in Gottesdienst und Nächstenliebe. Ein untätiger Glaube hat mit „lutherisch“ nichts zu tun.

Obwohl es also nicht mehr darum gehen kann, das Heil durch eigene Werke zu erwerben, wird echter Glaube in der Liebe tätig (Gal 5,6). Die Werke des Gesetzes werden verworfen, aber die Werke der Liebe gehören wesentlich zum Glauben hinzu. Ein Glaube, der nicht Frucht bringt in guten Taten, ist tot (Jak 2,17). Eine Kirche des Wortes ist darum, recht verstanden, immer auch eine Kirche der Diakonie.

3. Christliche Freiheit

Die Reformation des 16. Jahrhunderts hat sich als gewaltige Befreiungsbewegung Bahn gebrochen, deren Dynamik nur durch Mittel der Gewalt gestoppt werden konnte. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“, hat Luther gesagt (Von der Freiheit eines Christenmenschen; 1520). Damit werden emanzipatorische Kräfte freigesetzt. Kirchliche und politische Hierarchien werden relativiert. Evangelische Freiheit ist auch unter veränderten Umständen ein zentrales Anliegen lutherischer Kirche geblieben.

Allerdings wäre diese Freiheit als Freiheit im Sinne von Beliebigkeit gründlich missverstanden. Sie hat den Glauben – und mit ihm die Bindung an Gott – zur Voraussetzung. Die Herrschaft Gottes befreit von allen anderen „Herrschaften“, weil niemand zwei Herren dienen kann (Mt 6,24). Gleichzeitig weiß sich diese Freiheit dem Wohl des Nächsten verpflichtet.

„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“, fährt Luther (ebd.) unvermittelt fort. Das gilt in der Liebe: Sie setzt der Freiheit Grenzen und richtet das Tun aus. Die Freiheit „von“ verlangt die Freiheit „zu“, das heißt die Fähigkeit, Verpflichtungen zu übernehmen, sich zu solidarisieren und miteinander zu teilen. Allein die paradoxe Formulierung wird dem Wesen wahrer Freiheit gerecht.

Sie mutet dem Menschen eine Menge zu. Einerseits befreit sie von menschlicher und kirchlicher Vormundschaft, andererseits bürdet sie dem Einzelnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung auf. Institutionen oder andere Menschen können zwar beratend wirken, nicht aber das Risiko des eigenen Verhaltens übernehmen. Jeder wird an sein Gewissen verwiesen; dieses aber bedarf der Bindung an Gott und an das Gemeinwohl.

Was das Gute ist, kann darum nicht einfach an einem Gesetzeskodex abgelesen werden. Es muss unter Berücksichtigung der Situation und der gegebenen Notwendigkeiten erkannt und entsprechend erklärt werden. Evangelische Freiheit privilegiert daher die Verantwortungsethik vor einer starren Prinzipienethik, die sehr unmenschlich sein kann. Man kann die daraus resultierende Pluralität von Positionen beklagen und die Geschlossenheit der katholischen Moraltheologie beneiden. Aber Einmütigkeit gibt es nur durch mehr oder weniger kräftigen Zwang.

Lutherische Ethik hingegen hat ihre Entscheidungen stets zu rechtfertigen – mit Blick auf die jeweiligen Verhältnisse und unter dem von Gott erteilten Auftrag, das Beste daraus zu machen. Dabei sind Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Grenzen nicht auszuschließen. Wesentlich ist das Argument.

Es war nicht immer klar, dass eine solche Freiheit auch politische Dimensionen hat. Doch die Rede von Freiheit kann an den herrschenden Gesellschaftsstrukturen nicht vorübergehen. Das ist bei Luther sehr schön zu lernen. Er hat sich sehr kräftig zu gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit zu Wort gemeldet und redete den Mächtigen ins Gewissen. Dass er dabei auch „Fragwürdiges“ gesagt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Wie immer man seine Äußerungen im Einzelnen beurteilt, deutlich ist, dass für Luther Heil und Wohl nicht auf verschiedenen Schienen laufen. Ein unpolitisches Luthertum kann sich jedenfalls nicht auf den Reformator berufen. Evangelische Freiheit will den persönlichen Bereich überschreiten und gesellschaftsverändernd wirken. Mit menschenverachtender Diktatur kann sie sich nicht abfinden.

Dem Luthertum ist es durchaus nicht immer gelungen, die Folgen evangelischer Freiheit in überzeugender Weise politisch umzusetzen. Es ist auch von Schuld zu reden. Dennoch, die Verpflichtung bleibt. Das Evangelium will die Befreiung des Menschen, innerlich wie äußerlich.

Luther seinerseits war umsichtig genug, die Bereiche des Politischen und des Religiösen nicht miteinander zu verquicken. Die Idee eines „christlichen Staates“ verfocht er nicht. Natürlich gilt der Wille Gottes auch in der weltlichen Sphäre, aber Staat und Kirche haben unterschiedliche Aufgaben. Die Kirche hat das Wort Gottes zu predigen, die Staatsorgane haben für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.

Luther sprach konkret von „zwei Regimenten“ Gottes, dem zur Linken und dem zur Rechten (Von weltlicher Obrigkeit, inwieweit man ihr Gehorsam schuldig sei; 1523). Während es dort um die Erhaltung von Gottes Schöpfung geht, will Gott mit seiner Rechten den Menschen zum Glauben bewegen. Jenes ist eine weltliche Aufgabe, dieses eine geistliche.

Die Vorstellung der beiden Regimente Gottes hat eine lange und kontroverse Geschichte gehabt. Wichtig ist, dass lutherisches Denken sowohl theokratische Ambitionen ausschließt als auch den politischen Raum bei seiner Rechenschaftspflicht behaftet. In ihm soll die Vernunft das Sagen haben, worüber sich Christen und Nichtchristen verständigen müssen, – ein Aspekt, der in der globalen, weithin pluralen Welt des 21. Jahrhunderts von besonderer Wichtigkeit ist.

Trotzdem ist auch hier die prophetische Stimme der Kirche gefordert. Wohl herrschen in Staat und Kirche andere Gesetze, aber einer Politik, die sich unter Berufung auf eine angebliche „Eigengesetzlichkeit“ der Verantwortung entzieht, ist genauso zu widerstehen wie einer Vermischung von religiösen und säkularen Kompetenzen.

In Zeiten demokratischer Strukturen ist das Verhältnis von politischem und religiösem Mandat erneut zu diskutieren, ohne dass das Anliegen, das hinter der Vorstellung von den zwei Regimenten Gottes steht, aufgegeben werden dürfte. Nach lutherischer Überzeugung hat der Christ eine Aufgabe in beiden Bereichen. Zu christlicher Freiheit gehört nicht zuletzt die Bereitschaft, sich öffentlich für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.

4. Allgemeines Priestertum und Amt

Der Widerstand gegen die Reformation des 16. Jahrhunderts wurde wesentlich durch den Angriff auf die Machtstruktur der römischen Kirche ausgelöst. Der Protest gegen den Ablasshandel war nur ein Vorspiel, obwohl er einen wirtschaftlichen Pfeiler der Kirche erschütterte.

Wesentlich war die Bestreitung des Klerus als eines herausragenden geistlichen Standes. Nach Luther ist Priestertum ist nicht das Privileg einer Elite, das einer speziellen Berufung bedarf, sondern Eigenschaft eines jeden Gliedes des Volkes Gottes. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ schreibt er 1520: „Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied als allein des Amtes halber“ [...], „denn die Taufe, das Evangelium und das Glaubensbekenntnis, die machen allein geistlich und Christenvolk.“ In der Taufe geschieht also „Priesterweihe“, so dass der Unterschied von Klerus und Laien hinfällig wird.

Luther begründet das allgemeine Priestertum der Gläubigen mit dem Zuspruch aus dem ersten Petrusbrief, wo vom auserwählten Volk Gottes und königlichen Priestertum die Rede ist (1 Petr 2,9f.; vgl. Off 5,10). Daneben spielt auch der Gedanke von der Gleichförmigkeit mit Christus eine Rolle. Wenn er Priester ist, dann wir, die Getauften, ebenfalls.

Jeder Christ hat also geistliche Vollmacht. Damit werden Papst, Bischöfe und Priester entmachtet. Ihre Mittlerrolle zwischen Gott und den Menschen wird bestritten. Durch Jesus Christus, den Hohenpriester, haben alle direkten Zugang zu Gott.

Christen sollen Priester sein, indem sie das Evangelium in alle Welt tragen, geistliche Opfer bringen in Gebet, Lob und Dank, sich selbst der Sache Christi verschreiben und dem Nächsten in seinen Nöten beistehen. Das Priestertum aller Gläubigen ist gegenseitiges Priestertum. Luther konnte sogar sagen, dass es für den Christen darauf ankomme, dem anderen wie ein Christus zu werden (WA 7,66,33). Das Heil verdankt sich nach wie vor Jesus Christus allein. Aber Kirche und Christen können zu ihm hinführen.

Lebendiges Priestertum braucht ständige Erneuerung aus der Kraft des Evangeliums. Deshalb kann evangelische Gemeinde nicht auf das Amt verzichten, das für Predigt und Verwaltung der Sakramente Sorge trägt. Dieses Amt ist der Kirche von Gott selbst eingepflanzt. So sagt es der 5. Artikel der Augsburgischen Konfession.

Der Auftrag des Amtes ist im Grunde der gleiche wie der aller Gläubigen. Aber während von diesen erwartet wird, dass sie ihn spontan erfüllen, werden jene offiziell damit beauftragt. Auch in lutherischer Kirche gibt es also Laien und Amtsträger. Aber die Bedeutung der Begriffe hat sich gewandelt: Sie bezeichnen nicht mehr unterschiedliche Stände, sondern Funktionen.

In lutherischer Kirche tritt an die Stelle der Hierarchie von Laien und Klerus das Nebeneinander von Laien und Amtsträgern. Nur der Auftrag unterscheidet beide Gruppen. Und der besteht darin, dass die Amtsträger ihr Reden, Lehren und sogar ihr Tun öffentlich verantworten müssen. Laut Artikel 14 der Augsburgischen Konfession soll niemand in der Kirche öffentlich lehren, sofern er nicht ordentlich dazu berufen wurde.

Natürlich soll auch das Zeugnis des Laien öffentlich sein. Es ist ihm nicht gestattet, sich mit seinem Glauben in die Privatsphäre zurückzuziehen. Aber die Rechenschaftspflicht der Amtsträger ist eine andere. Sie müssen in der Lage sein, nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern im Namen der beauftragenden Kirche zu reden und entsprechend Stellung zu beziehen.

Solche Verantwortung erfordert eine gründliche theologische Ausbildung sowie Einführung in die kirchliche Praxis. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, erfolgt die Berufung in das Amt. Sie geschieht in der Handlung der Ordination, die unter Handauflegung zum Dienst entsendet und für diesen den Segen Gottes erbittet.

Neben dem ordinationsgebundenen Amt gibt es selbstverständlich zahlreiche Ämter ohne Ordination. Diese unterscheiden sich von dem ersteren dadurch, dass die Bedingung von Artikel 14 der Augsburgischen Konfession entfällt; nicht jedes Amt erfordert öffentliche Lehrverantwortung.

Das gilt schon gar nicht für das allgemeine Priestertum. Jeder Christ ist zum Zeugnis berufen, aber eben nicht „offiziell“. Amt und allgemeines Priestertum sind also keine Gegensätze. Das Amt der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente steht im Dienst des Priestertums aller Gläubigen. Es hebt dieses nicht auf, sowie dieses Raum geben muss für jenes.

Daraus ergibt sich die synodale Struktur lutherischer Kirche. Die Verantwortung für das Wohl der Kirche, für die Erfüllung ihres Auftrags, für die rechte Lehre wird auf die Schultern sowohl des Amtes wie auch der Gemeinde gelegt. In allen Leitungsgremien und auf allen Ebenen wird erwartet, dass Laien und Amtsträger in gemeinsamer Sache zusammenarbeiten.

Eine lutherische Kirche ist weder espiskopal strukturiert noch kongregational, in ihr haben weder nur die Bischöfe noch auch nur die Gemeindeglieder das Sagen. In ihren Synoden finden sich Vertreter beider Kategorien, der Gemeinde und des Amtes.

Dass sich daraus Spannungen ergeben können, ist klar. Aber das Risiko ist wegen der Beteiligung der Gemeinde einerseits und der Verantwortung des Amtes andererseits nicht zu umgehen. Eine lutherische Kirche kann sich weder mit einer entmündigten Gemeinde abfinden noch mit einer Vernachlässigung des von Gott gegebenen Auftrags. Sie will beides, die lebendige Gemeinde und das ordinierte Amt, und dies in der Überzeugung, dass die Zusammenarbeit segensreich ist.

5. Lutherische Kirche und Ökumene

Es wäre vermessen, die Merkmale dessen, was „lutherisch“ ist, erschöpfend darstellen zu wollen. Die oben angesprochenen Beispiele aus Diskurs, Praxis und Kirchenstruktur mögen genügen, um einen hinreichenden Eindruck zu vermitteln.

Gleichzeitig wird klar geworden sein, dass das Phänomen „lutherisch“ in unterschiedlichen Schattierungen begegnet. Auch Lutheraner sind nicht immer einer Meinung. Es gibt ein konservatives Luthertum und ein progressives; es gibt ein mehr „hochkirchliches“ und ein mehr „freies“ Luthertum; es gibt ein Luthertum, das auf Treue zum Bibeltext besteht, während für andere Lutheraner die kritische Exegese selbstverständlich ist. Die Frauenordination wird von den meisten lutherischen Kirchen bejaht, aber eben nicht von allen.

So gehört eine gewisse Pluralität und ein Ringen darum, was dem Bekenntnisstand entspricht, zum Wesen des „Lutherischen“ hinzu. Dennoch wird der lutherische Rahmen nicht gesprengt, sofern ein gemeinsames Grundmuster, wie es hier in seinen Grundzügen skizziert wurde, beibehalten ist. Der Begriff „lutherisch“ verträgt durchaus unterschiedliche Nuancen.

Das wird nirgendwo so deutlich wie im „Lutherischen Weltbund“. Gegründet 1947 in Schweden, hat er seinen Verwaltungssitz in Genf. Er versteht sich als Gemeinschaft von Kirchen auf der Grundlage des lutherischen Bekenntnisses. Inzwischen vereint er 145 Kirchen aus 79 Ländern und ist in allen Kontinenten zu Hause.

Der Weltbund versucht seinen Mitgliedskirchen ein gemeinsames Forum zu bieten und ihnen das gemeinsame Reden und Handeln zu ermöglichen. Er ist ökumenischer Ansprechpartner und Repräsentant des Luthertums. Ein Beispiel dafür ist die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, die von der Römisch-katholischen Kirche und den im Lutherischen Weltbund vereinten lutherischen Kirchen erarbeitet und am 31.10.1999 in Augsburg feierlich unterzeichnet worden ist.

Lutherisch bezeichnet also unter anderem eine globale Organisation mit eigener Struktur, die freilich die Autonomie der ihr angehörenden Kirchen respektiert. Auch wenn der Lutherische Weltbund keine Super-Kirche zu sein beansprucht, erfüllt er doch in mancher Hinsicht ekklesiale Funktionen.

Die globale Verbreitung des Luthertums stellt seine Fähigkeit zur Inkulturation unter Beweis. Es kann sich lokalen wie regionalen Gegebenheiten anpassen und kulturelle Eigenheiten in sich aufnehmen. Allerdings gibt es da Grenzen. Nicht alles ist mit dem Evangelium verträglich. Als Beispiel diene das Kastensystem, das für den christlichen Glauben inakzeptabel ist. Die lutherische Kirche in Indien leidet deswegen unter Anfeindungen.

Sei es in Zustimmung, sei es im Wiederspruch – der jeweilige Kontext geht an niemandem spurlos vorbei. Deshalb haben lutherische Kirchen, die in anderen Kulturkreisen als dem europäischen beheimatet sind, ein sehr eigenes Gesicht entwickelt, ohne aus der weltweiten Gemeinschaft herauszufallen. In Afrika gibt es sehr lebendige schwarze lutherische Kirchen. Entsprechendes gilt für Asien und andere Teile der Welt. Auch in Europa, Australien, Nord- und Südamerika präsentiert sich das Luthertum keineswegs uniform. Kennzeichnend ist eher eine bunte Vielfalt, die außerordentlich bereichernd wirken kann.

Aber das Luthertum ist nicht nur in dem Sinne ökumenisch, als es über die „bewohnte Erde“ – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes – verbreitet ist, sondern auch indem es sich um die Einheit der Christenheit bemüht. Spaltungen sind ein Makel am Leibe Christi, den es zu beseitigen gilt.

Diese Einsicht hat die lutherischen Kirchen veranlasst, sich sowohl einzeln wie auch gemeinsam, vermittels Dachorganisationen, für dieses Ziel einzusetzen. Die meisten lutherischen Kirchen sind Mitglieder des Ökumenischen Rates der Kirchen und engagieren sich in zahlreichen regionalen Initiativen. Sie unterhalten Dialoge über kontroverstheologische Fragen mit verschiedenen ökumenischen Partnern, stets im Bemühen, Hindernisse auf dem Weg zur Einheit zu beseitigen. Da es nicht darum gehen darf, den Partner einfach zu vereinnahmen, muss Kirchengemeinschaft das legitime Ziel bleiben.

Am weitesten ist die Leuenberger Konkordie in diese Richtung vorgestoßen. Zwar war die Verwandtschaft von reformiertem und lutherischem Glauben von jeher groß, dennoch hat es in der Vergangenheit viel Zwist zwischen den Anhängern hier und da gegeben. Diese Geschichte ist nun überwunden. Trotz einiger verbleibender Unterschiede zwischen reformierten, unierten und lutherischen sowie weiteren reformatorischen Kirchen wird erklärt, dass ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums erreicht und damit Kirchengemeinschaft möglich geworden ist.

Auf diesem Weg muss weitergegangen werden. Es ist erfreulich, dass die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen Kirchen zu immer mehr Gemeinsamkeit finden, nicht zuletzt in der Zusammenarbeit von Lutherischem und Reformiertem Weltbund. Auch mit den Anglikanern haben sich in jüngster Zeit hoffnungsvolle Perspektiven künftigen Zusammengehens eröffnet.

Dennoch bleibt die ökumenische Aufgabe schwierig. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung hat es nicht zu verhindern vermocht, dass die Glaubenskongregation der römisch-katholischen Kirche erneut bekräftigt hat, die lutherischen Kirchen nicht als Kirchen im eigentlichen Sinne betrachten zu können. Wohl ist die Christlichkeit aller Getauften anerkannt. Aber von Schwesterkirchen will man nicht reden. Die Gegensätze scheinen sich wieder zu verschärfen.

Das gilt nicht nur für die Kirchen, sondern ebenso für die Religionen. Konflikte mit „Religionshintergrund“ sind an der Tagesordnung und stellen eine wachsende Gefahr für den Weltfrieden dar. Auch in diesem Sinne hat das Luthertum seine „ökumenische“ Aufgabe nicht verleugnet und sich beispielsweise in interreligiösen Dialogen engagiert, unter denen das Gespräch mit den jüdischen Schwestern und Brüdern einen deutlichen Vorrang gehabt hat. Die Verständigung mit den Religionen gehört zu den großen Herausforderungen der Welt des 21. Jahrhunderts. Es wird darauf ankommen, die Balance zu finden zwischen dem Relativismus einerseits und dem Exklusivismus andererseits. Beides kann lediglich zu außerordentlich nachteiligen Folgen führen.

Abschließend sei betont, dass es der lutherischen Art und Weise des Christseins nicht darauf ankommt, irgendeine Lücke auf dem heftig umworbenen religiösen Markt der Gegenwart auszumachen und zu besetzen. Sofern lutherische Kirche wichtig ist, braucht sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Vorrangig ist das Wohl der Kirche und der Menschheit.

Diese Sorge war der Auslöser der Reformation im 16. Jahrhundert und sollte es auch heute sein. Dazu gehört der Mut, sich des Evangeliums nicht zu schämen – in der Überzeugung, dass es „Heilsames“ zu bieten hat (Röm 1,16). Nach lutherischer Überzeugung gehört das Evangelium zu den Grundbedürfnissen des Menschen.

Die Kirche steht und fällt damit, ob es ihr gelingt, dies jeweils neu unter Beweis zu stellen. Dabei war der Begriff „lutherisch“ immer transparent für einen „reformatorischen Impuls“. Er steht für „Kurskorrektur“, Neubesinnung, Erneuerung. Da sich die Geschichte nicht wiederholt, ist es unmöglich, direkt an die Bewegung des 16. Jahrhunderts anzuknüpfen. Aber die Kräfte, die sie getragen haben, sind für die heute nötigen Reformen unvermindert relevant. Lutherische Kirche vertraut darauf, dass sie auch unter veränderten Umständen wirksam werden.

Literatur:

Barth, Hans Martin, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009.

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 13. Aufl., Göttingen 2010.

Bornkamm, Karin / Ebeling, Gerhard [Hg.], Martin Luther. Ausgewählte Schriften, 6 Bde., 2. Aufl., Frankfurt am Main 1983.

Hauschild, Wolf-Dieter [Hg.], Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998.

Wenz, Gunther, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde., Berlin/New York 1996. 1997.

 


Prof. Dr. Gottfried Brakemeier, Nova Petrópolis, RS, Brasil
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