Kirchengeschichte

Martin Schwarz Lausten

I. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters

1. Die Anfänge der Kirche, ihre Ausbreitung, ihr Status, ihre Entwicklung in Europa

Die christliche Kirche gründet sich auf der Überzeugung, dass Jesus von Nazareth drei Tage, nachdem er durch die Kreuzigung hingerichtet worden war, von den Toten auferstand. Diese Gewissheit sowie das Ereignis am Pfingsttag, als die ersten Christusgläubigen wie durch ein Wunder vom Heiligen Geist erfüllt wurden (Apg 2), bewirkte in ihnen den Mut, von Jesu Leben, seiner Verkündigung, seinem Tod und seiner Auferstehung zu berichten und ihn als den wahren Messias zu bekennen.

Die ältesten Quellen über Jesus sind die Briefe des Paulus. Später wurden die Evangelien niedergeschrieben, und wenn sie auch durchaus voneinander abweichen, so sind sie sich doch darin einig, dass der Kern von Jesu Botschaft in der Verkündigung bestand, das in der jüdischen Bibel (dem Alten Testament) prophezeite Reich Gottes sei nun mit ihm dabei, zum Durchbruch zu kommen. Es sei gegenwärtig, werde sich aber erst am Ende der Zeiten durchsetzen, und Jesus selbst sei der prophezeite Messias, der Gesalbte Gottes, der Sohn Gottes, ja identisch mit Gott selbst.

Jesu Verkündigung stellte alle Gebote im Gesetz des Mose zurück hinter das Gebot, Gott und den Mitmenschen zu lieben; darin allerdings verlangte sie vollkommenen Glauben und Gehorsam. Bereits in der ersten Christengeneration wurde diese für das damalige Judentum empörende Botschaft durch Mission über die Landesgrenzen hinausgetragen. Bei Paulus ist der Bruch mit dem Judentum vollendet, gleichwohl wird die Verwandtschaft mit dem Judentum bewahrt. Die alttestamentlichen Prophetien über den Messias werden auf Jesus übertragen. Die jüdische Bibel wird als Heilige Schrift übernommen. An die Stelle der Erfüllung des mosaischen Gesetzes als Heilsweg tritt nun der Glaube an die Versöhnung Gottes mit den Menschen durch den Tod und die Auferstehung Jesu. Die Beschneidung ist aufgegeben zugunsten der Taufe als Eingang in die christliche Gemeinde. Der jüdische Synagogengottesdienst am Sabbat legt den Grund für die Gottesdienste der Christen am Sonntag - dem Tag, an dem der Herr aus dem Grabe auferstand - mit Gebet, Schriftlesung, Paränese und Hymnen.

In der nachapostolischen Zeit und in der Zeit der Alten Kirche (70-476) breitete sich die Kirche im mittleren Osten, in Nordafrika und weiten Teilen von Europa aus. Sie organisierte sich um Bischöfe und Ortsgemeinden. All dies geschah unter heftigem Widerstreit von mehreren Seiten. Die damalige Kultur, der Hellenismus, hielt die christliche Botschaft für eines gebildeten Menschen unwürdig und für unvernünftig. Eine Gefährdung anderer Art war der Gnostizismus, - eine gemeinsame Bezeichnung für etliche religiöse Bewegungen, die von dem "fernen Gott" sprachen, von Zwischenwesen, die Kontakt zu den Menschen herstellten, welche sich durch Askese, durch mystische Erlebnisse und heimliche Rituale als Gnostiker zu qualifizieren hatten. Manche Kreise meinten, dass die Christen weit radikaler, als sie es taten, mit dem Judentum brechen sollten. Besonders kritisch aber wurde und war die Lage dadurch, dass es überall im Römischen Reich zu gewalttätiger Verfolgung kam. In den Krisenzeiten des Reiches setzten die wechselnden Kaiser immer wieder systematische Kampagnen ins Werk (ca. 230-311), um die Christen auszurotten, die als illoyale Staatsbürger betrachtet wurden, weil sie nicht an der staatlichen Religionsausübung teilnehmen wollten. Die ersten christlichen Theologen versuchten das Christentum zu verteidigen; aber erst als die Führer des Reiches zu einer positiven Einstellung zum Christentum fanden, vollzog sich die entscheidende Wende.

Mit der Übernahme der Alleinherrschaft durch Konstantin im Westen (314) und später (324) im ganzen Römischen Reich veränderte sich die Situation der Christen von Grund auf. Nicht nur die Verfolgung hörte auf, das Christentum wurde jetzt vielmehr zur ideologischen Grundlage für den Staat gemacht. Bis zum Ende des 4. Jahrhunderts wurde es Staatsreligion, alle nichtchristlichen Religionen wurden verboten.

Nach der Auflösung des Römischen Reiches, zu Beginn des Mittelalters (476), verschob sich der politische Schwerpunkt in der alten Welt nach Westen. Dort entwickelte sich das Frankenreich zu einem Großreich, das seine Blüte unter Pippin und seinem Sohn Karl dem Großen (768-814) erreichte. Die Germanen nahmen nun das Christentum an, und beim Aufbau dieses neuen - fränkischen - christlichen Reiches (Imperium Christianum) sollte die Geistlichkeit eine wichtige kirchliche und politische Rolle spielen. Sie erhielt viele Privilegien, die Kirche stand unter dem Schutz des Kaisers, eine feste Kirchensteuer von 10% wurde eingeführt. An der Spitze aller kirchlichen Gesetzgebung und Verwaltung aber stand der Kaiser.

Unter den Nachfolgern Karls des Großen löste sich das Reich auf. Zu dieser Zeit erhob Papst Nikolaus I. (858-867) die Forderung, dass der Kaiser, um legitim regieren zu können, seine Krone vom Papst empfangen müsse. Denn auch wenn das geistliche und das weltliche Regiment ("die beiden Schwerter") getrennt bleiben sollten, sei doch das geistliche Schwert des Papstes dem weltlichen übergeordnet. Doch bald verfiel die Autorität des päpstlichen Stuhls.

Währenddessen entstand unter Otto dem Großen (936-973) ein neues europäisches Imperium, das die Ideologie Karls des Großen weiterführte, derzufolge dem Kaiser die Verantwortung für die Religion der Untertanen übertragen war. Otto räumte auf in den unwürdigen Zuständen um den päpstlichen Stuhl, ließ in noch heidnischen Gebieten missionieren und weitete die Privilegien der Kirche aus. In der Folge hatten die Bischöfe nun am Lehnswesen des Landes teil, sie erhielten Güter und sie legten den Lehnseid auf den Regenten ab.

In der Leitung der Kirche wie im kirchlichen Leben setzte sich der Verfall derweil weithin fort, bis eine Erneuerungsbewegung, die vom Kloster Cluny in der Bourgogne ausging, um das Jahr 1000 eine Wende bringen sollte. Das Leben in den Klöstern wurde reformiert, es wurde mit seinen ursprünglichen Bestimmungen in Übereinstimmung gebracht: Gottesdienste, Zeremonien, Architektur und Kunst - alles sollte dem Lobpreis Gottes dienen.

Diese Reformbewegung breitete sich rasch über zahlreiche Klöster bis zum päpstlichen Stuhl hin aus. Hier wurde jetzt die Forderung nach der "Freiheit der Kirche" (libertas ecclesiae) formuliert. Das Schlagwort meint, dass man in der Kirche von weltlicher Einmischung frei sein wollte. Man verbot Korruption ("Simonie", nach Apg 2), und man verlangte, dass Geistliche im Zölibat zu leben hätten, so dass sie ihren Dienst am Altar "rein" versähen und in ihrem Amt unabhängig seien. Etwas später kam die Forderung nach dem Respekt vor der eigenen Gesetzessammlung der Kirche hinzu, dem kanonischen Recht, und den kirchlichen Gerichten. Vor allem aber verlangte man die Autonomie der Kirche bei der Besetzung der Bischofsämter. Die Bezeichnung des Aktes, mit dem die Bischöfe eingesetzt wurden, als "Investitur" (Einkleidung) verweist auf die im Einsetzungsritual verwendeten Symbole Ring und Stab.

Traditionell hatten im germanischen Gesellschaftssystem, was die zentrale wirtschaftliche und politische Bedeutung der Bischöfe anging, die Fürsten die wichtigste Rolle bei der Ernennung und Einsetzung von Bischöfen gespielt. Jetzt aber forderten die Reformpäpste, dass die Bischöfe in erster Linie kirchliche Hirten seien, weshalb die weltliche Obrigkeit nicht weiter dominieren dürfe. Die Konfrontation zwischen Kaiser und Papst, der Investiturstreit, der sogar in kriegerischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden konnte, bestimmte die Geschichte Europas in mehreren Wellen über die folgenden Jahrhunderte hin.

Gelegentlich konnten Kirche und weltliche Macht sich gleichwohl zu großen Initiativen zusammenfinden wie etwa den Kreuzzügen (von den 1090er Jahren bis ins 13. Jahrhundert). Ihre Motive waren zwar eine Mischung aus religiöser Begeisterung, Handelsinteressen, sozialen Missständen und Kriegslust, aber sie demonstrierten zugleich die Idee des Papsttums, des einen Papstes als Oberhaupt der ganzen Christenheit.

Anfang des 14. Jahrhunderts sah sich der Papst (zuerst Clemens V., ein Franzose) genötigt, den päpstlichen Stuhl nach Südfrankreich zu verlegen, wo er sich dann bis 1376 befand (die sog. Babylonische Gefangenschaft der Kirche). Auseinandersetzungen über die Papstwahl bei seiner Rückkehr nach Rom führten dazu, dass in Rom ein Papst gewählt wurde und ein zweiter in Avignon.

Jenes für die ganze Christenheit verhängnisvolle Papstschisma dauerte fort, bis im Zuge einer Reformbewegung, des so genannten Konziliarismus, ein Konzil in Konstanz einberufen wurde (1417). Hier wurde ein neuer gemeinsamer Papst gewählt, Martin V., der versprach, die kirchliche Einheit wiederherzustellen und die Kirche zu reformieren. Aber sowohl er als auch seine Nachfolger, die so genannten Renaissancepäpste, versagten. Sie lehnten den Konziliarismus ab, bauten eine starke Zentralmacht in Rom auf, trafen effektive zweiseitige Absprachen mit den einzelnen europäischen Ländern, bauten den päpstlichen Stuhl zum größten Finanzimperium des Kontinents auf - und erfreuten sich selbst und die Nachwelt bis in unsere Zeit, indem sie sich auf vielen Gebieten als Mäzene der besten Künstler der damaligen Zeit betätigten.

2. Theologie und Frömmigkeit in der Alten Kirche und im Mittelalter

Schon im zweiten Jahrhundert hatten gelehrte Leute damit begonnen, sich damit zu beschäftigen, die christliche Botschaft und ihre Folgen für das gesellschaftliche Leben zu durchdenken. Männer wie Justin, Tatian, Irenäus und Tertullian verteidigten das Christentum gegen die oben erwähnten Angriffe. Sie vertieften die Lehre von der Erlösung und der Dreieinigkeit; sie gaben Anweisungen für die Verpflichtungen der Christen zu einem besonderen, moralischen Leben. Angesichts von Kritik und Unsicherheit wurde es außerdem notwendig, den Umfang der verpflichtenden "heiligen" Schriften festzulegen. Nach langen Diskussionen konnte man sich am Anfang des 3. Jahrhunderts auf jene 27 Schriften einigen, aus denen jetzt das Neue Testament besteht.

An der Katechetenschule in Alexandria arbeiteten Männer wie Titus Flavius Klemens (ca. 150 - ca. 215) und Origenes (ca. 185 - ca. 253). Sie versuchten, die christlichen Gedanken zu einem allumfassenden System zusammenzudenken, indem sie sich der griechischen Philosophie als Mittel bedienten. Generell kann man sagen, dass in diesem östlichen Teil der Kirche der Gedanke der Erlösung im Mittelpunkt stand und das Streben nach einer Vergöttlichung der menschlichen Natur - im Rahmen einer philosophisch ausgerichteten Theologie, die der Frage nachging, wie Christus der Erlöser sein konnte und dies mit dem Gottesbild zu vereinen war. In diesem Kontext kam es im 4. und 5. Jahrhundert zu großen Lehrstreitigkeiten über das Verständnis der Dreieinigkeit und der beiden "Naturen" Christi, seiner menschlichen und seiner göttlichen.

Im Westen hingegen wurde die Erlösung eher in moralischen Kategorien verstanden. Die Morallehre und die Lehre von der Verdienstlichkeit standen im Vordergrund. Dies sieht man bei Theologen des 4. Jahrhunderts wie Ambrosius und Ambrosiaster. Der größte von allen aber ist Augustin (354-430), der schließlich Bischof in Nordafrika, im heutigen Algerien, wurde. In seinem enormen Werk stellt er dar, wie der Mensch auf Grund der Erbsünde und eines bösen Willens verloren wäre, wenn nicht die göttliche Liebe imstande wäre, den Willen neu zu schaffen, so dass der Mensch dem Willen Gottes folgen kann. Diese Erlösung wird durch die Kirche geschenkt, durch die Bibel und die Tradition, die Sakramente Taufe und Abendmahl.

Das so verstandene göttliche Heilsdrama konnte Augustin anders - vor allem in seinem Werk "Vom Gottesstaat" (De civitate Dei) - als einen Kampf zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des Teufels schildern, einen Kampf, der von jeher den Gang der Geschichte bestimmt habe. Später interpretierte man diesen Gedanken, theologisch verkürzend, als den Gegensatz zwischen Kirche und Staat und berief sich in der Forderung, dass der Staat sich der Kirche unterzuordnen habe, auf dieses Werk.

Die theologische Wissenschaft hatte von Anfang an von der weltlichen gelernt. Man bediente sich der einzelnen philosophischen Disziplinen, war sich aber natürlich über die Unterschiede im Klaren. In der kirchlichen und kulturellen Blütezeit unter Karl dem Großen erlebten die Wissenschaften einen Aufschwung. Einzelne Theologen beschäftigten sich mit der Bibelauslegung; es wurde liturgisch gearbeitet; das Problem, wie das Abendmahl zu verstehen sei, wurde virulent und die Frage nach der Verwendung von Bildern in den Kirchen. Doch die eigentliche wissenschaftlich-theologische Arbeit begann am Ende des 11. Jahrhunderts mit der Scholastik (deutsch: Schulwissen), die sowohl Forschung als auch Debatte und Lehrtätigkeit umfasste. Sie entfaltete sich an den Schulen der großen Dome - u.a. in Paris, in Bologna und Cambridge -, wo berühmte Lehrer sowohl Kollegen als auch Studenten anzogen.

Das Hauptproblem, mit dem man sich beschäftigte, war das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft, zwischen der menschlichen Vernunft und der kirchlichen Autorität. Dazu kam bald das Bestreben, die gesamte kirchliche Lehre in überschaubaren Darstellungen zusammenzufassen. Unter den frühen Vertretern der Scholastik waren der Erzbischof von Canterbury, Anselm (1033-1109), und der Leiter der Domschule in Paris, Petrus Abaelard (1079-1142). Zu nennen sind auch Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der Abt Hugo (1096-1141) von der gelehrten Akademie St. Victor in Paris sowie Petrus Lombardus (ca. 1100-1160). Mit dem Werk des letztgenannten "Vier Bücher Sentenzen" (Libri quattuor sententiarum) erhielt das Mittelalter ein Handbuch in der christlichen Lehre, das bis ins 16. Jahrhundert hinein verwandt wurde.

Im folgenden, im 13. Jahrhundert erreichte diese Arbeit ihren Höhepunkt mit den beiden großen dogmatischen Werken des Thomas von Aquin (1225-1274), der Summa contra gentiles und der Summa theologiae ("Summa" bedeutet "zusammenfassendes Werk", also als erstes "... gegen die Heiden", und zweitens "Zusammenfassung der Theologie"). In mehr als 3000 Einzelabschnitten fasst Thomas das gesamte Wissen des Mittelalters zusammen, behandelt alle denkbaren Themen, führt die Meinungen der Autoritäten und seine eigene Auffassung auf. Er wurde und war der "Normaltheologe". Kein anderer Theologe hat eine so große Bedeutung für die römisch-katholische Kirche wie er. Eine moderne Ausgabe seiner gesamten Produktion füllt über 30 große Bände.

- Was wollte die Kirchen mit den Menschen? - Sie erlösen! Bei Thomas von Aquin kann man lesen, wie. Der Mensch war von Gott mit dem Ziel geschaffen, ihn zu preisen, so dass er ehedem nach dem Tode die völlige Gemeinschaft mit ihm erlangen konnte. Aber durch die Sünde hat der Mensch die unmittelbare Fähigkeit dazu verloren. Hier nun kommt die Kirche ihm zu Hilfe. Durch die göttliche Gnade kann der Mensch die Fähigkeit wiedererlangen, seiner göttlichen Bestimmung zu entsprechen. Die Gnade lässt sich in den Menschen einpflanzen als eine Art Kraftstoff, und sie kann eine neue Natur schaffen, denn "die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie". Trotz des Sündenfalls gibt es noch immer ein natürliches Streben im Menschen, auf dem Gott aufbauen kann.

Die Gnade wird durch jene Gnadenmittel verliehen, die der Kirche von Gott anvertraut sind; deshalb können sie nur von geweihten Priestern dargereicht werden. Der Mensch kann diese Gnadenmittel in der Kirche erlangen - im sakramentalen Leben der Kirche in seiner Gesamtheit. Thomas beschreibt und begründet die Siebenzahl der Sakramente (Taufe, Buße, Firmung, Abendmahl, letzte Ölung, Ehe und Ordination), die schon der erwähnte Hugo von St. Victor bedacht hatte. Die Gotteserkenntnis kann zugleich durch die Offenbarung Gottes in der Schrift erworben werden, mitgeteilt in der kirchlichen Tradition, wie in den Dogmen, die im Gehorsam gegen die kirchliche Autorität anzunehmen sind. Denn Glaube ist "Denken mit Zustimmung".

Diesen letzten Aspekt bearbeitete ein anderer Scholastiker theologisch weiter, Johannes Duns Scotus (ca. 1264-1306). Er behauptete, Gottes Wille könne von der menschlichen Vernunft nicht erkannt, die Lehraussagen müssten vielmehr kraft der kirchlichen Autorität angenommen werden. Der Mensch sei zwar durch den Sündenfall geschwächt, aber seine Natur sei nicht zerstört; die Sünde habe ihren Sitz im Willen.

Durch Wilhelm von Ockham (ca. 1280-1349) wurde die solchermaßen kritische Einstellung gegenüber der Überlieferung weiter vertieft. Er vertrat die Auffassung, dass man nicht durch Erkenntnis zu Gott gelangen könne, sondern nur durch die Offenbarung, das heißt in der Praxis: die Lehre der Kirche. Man müsse den Willen gebrauchen, um zu glauben, und wenn man sich dementsprechend anstrenge, werde Gott dies mit der Gabe der Gnade belohnen. Im Gegensatz zu Thomas besteht hier also ein entscheidender Unterschied zwischen Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung.

Dieses Denken, der Ockhamismus, wurde an den Universitäten als via moderna (die neue Richtung) bezeichnet. Einer ihrer herausragenden Vertreter war der Deutsche Gabriel Biel (ca. 1410-1495), dessen Gedanken Martin Luther als Student in Erfurt begegnete.

Auf seinem gefährlichen Weg durch das Leben kann der Mensch in mancherlei sakramentalen Handlungen Hilfe suchen, etwa der Austreibung von Teufeln, Weihrauch, Weihwasser etc., vor allem aber bei der großen Schar von Heiligen, an erster Stelle bei der Jungfrau Maria. Heilige sind Menschen, die mehr geleistet haben als das, wozu sie verpflichtet waren; ihre Verdienste kommen der ganzen Menschheit zugute.

Die Verehrung Marias nahm im Laufe des Mittelalters ein stetig größer werdendes Ausmaß an. Je mehr Christus als der strenge Sohn Gottes geschildert wurde, der am "Tage des Zorns" Gericht hält, desto mehr wurde sie als "Mutter der Barmherzigkeit" verstanden. Zahlreiche Feiertage wurden ihr gewidmet, dazu Bruderschaften, Orden, Kirchen. Täglich betete man das kurze Ave Maria, zusammengesetzt aus Lk 1,28 und 42 mit einem Zusatz; als Gebetshilfe diente der Rosenkranz mit seinen 59 Perlen.

Am persönlichsten begegnete die Kirche den Menschen indes im Beichtstuhl. Nach Bekenntnis und Reue empfing man Vergebung, zugleich wurden auch Bußstrafen auferlegt. Die Strafen, die im irdischen Leben nicht abgebüßt werden konnten, würden in dem furchtbaren Fegefeuer gesühnt werden müssen. Mit Hilfe des Ablasses konnte die Kirche den Menschen die Zeit des Fegefeuers immerhin verkürzen. Als gegen Ende des Mittelalters schließlich auch Geld in diesen Fragen eine Rolle zu spielen begann, stürzte eine unsichere Theologie in diesem weiten Themenkomplex viele Menschen in Zweifel und Verzweiflung.

Seit dem 4. Jahrhundert schon hatten sich Menschen, die ihren Christenglauben mehr pflegen wollten als andere, in besonderen Gemeinschaften zusammengefunden. Sie sammelten Worte aus dem Neuen Testament, die die Richtigkeit eines Lebens in Entsagung, Askese und Armut begründen konnten. Die Führer der Kirche approbierten diese Form des Christenlebens unter der Voraussetzung, dass man zu ihr berufen war. Damit integrierten sie die Mönchs- und Nonnenbewegung in die Kirche, nahmen ihr aber zugleich in gewisser Weise auch den Stachel ihrer Kirchenkritik. Im Westen gewann die Regel für das Klosterleben, die Benedikt von Nursia (ca. 480-547) formuliert hatte, entscheidende Bedeutung bis in die Gegenwart.

Doch die Klosterbewegung konnte insgesamt viele verschiedene Formen annehmen. Erwähnt seien im frühen Mittelalter das iro-schottische Mönchtum, im 12. Jahrhundert die Zisterzienser, im 13. Jahrhundert die Bettelmönche, u.a. Franziskaner und Dominikaner. Mönche und Nonnen lebten, wie man sagte, ein "engelgleiches" Leben, das die Anzahl guter Werke in der sündigen Menschheit vermehrt. Sie waren Elitechristen, die eine in allerhöchstem Maße gesellschaftlich relevante Aufgabe erfüllten. Überdies wurden die Klöster zu Zentren der geistigen Kultur neben den Domkapiteln, der Gemeinschaft der Geistlichen an den Domen.

Die Religiosität des Volkes scheint im Spätmittelalter so lebendig gewesen zu sein wie nie zuvor. Seit dem 14. Jahrhundert allerdings traten vereinzelt Philosophen und Theologen auf - u.a. Marsilius von Padua, John Wyclif oder Jan Hus -, die außerordentlich kritische Fragen an das Papsttum und zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat stellten. Auch männliche und weibliche Mystiker und Propheten wie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Birgitta von Vadstena, Katharina von Siena und andere zeigten, dass das geistliche Leben weitere Dimensionen haben konnte als das sakramentale Leben der Kirche.

Im 16. Jahrhundert gewann der Humanismus großen Einfluss. Sein bedeutendster Vertreter war Erasmus von Rotterdam (1467/69-1536). Die Bibel und die Theologen der Alten Kirche, die in den Originalsprachen studiert werden sollten, standen nun im Zentrum der Aufmerksamkeit, und in dem so gegebenen Horizont wurden die kirchlichen Verhältnisse scharf kritisiert. Wichtiger als Dogmen und theologische Spitzfindigkeiten war den Humanisten die moralische Lebensführung der Menschen. Doch Erasmus und seine Anhänger verblieben trotz allem im Rahmen der römischen Kirche.

II. Reformationszeit und Neuzeit

3. Die protestantische Reformation. Römisch-katholische Erneuerung und Gegenreformation

Die Zeit um 1500 bezeichnet man gern als Anfang der "Neuzeit", denn die abendländische Christenheit befand sich nun an einer Zeitenwende mit großen Umwälzungen. Die großen Entdeckungsreisen nach Süd- und Nordamerika, Indien und in den fernen Osten führten zu einer Veränderung des Weltbilds, der Handel erlebte eine Blüte, der Bergbau entwickelte sich, und das hatte auch Einfluss auf die Landwirtschaft. Das alte Wirtschaftssystem wurde abgelöst von einer Geldwirtschaft, moderne Geschäftsmethoden, das Bankwesen kamen auf, eine neue mächtige Gruppe, die Bürger, machte sich in den Städten bemerkbar und verlangte Einfluss auf Kosten von Geistlichkeit und Adel. Fürsten und Mittelklasse konnten sich hier in gemeinsamen Interessen begegnen, der moderne Staat begann Form anzunehmen, und der Gedanke machte sich breit, dass der einzelne Fürst in seinem Gebiet die volle Autorität besitze - auch in kirchlichen Fragen. Die Leitung der römischen Kirche wiederholte noch 1517 die mittelalterliche Forderung nach der obersten geistlichen und weltlichen Macht in der ganzen Welt, aber sie war tief kompromittiert durch die wirtschaftliche Ausbeutung, die sie in ganz Europa betrieb, durch ihre Einmischung in die Politik und durch die unsittliche Lebensführung der Renaissancepäpste. Zu all dem kam die theologische Unsicherheit, von der bereits die Rede war.

Im Kloster machte der Mönch Martin Luther (1483-1546) die furchtbare Entdeckung, dass man trotz Askese und frommer Handlungen nicht die besondere Gnade Gottes erfährt. Er fühlte vielmehr stets seine Eigenliebe und seinen Hochmut, den fernen, gerechten und richtenden Gott und die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Bei der Arbeit an den Psalmen und am Römerbrief des Paulus, vor allem seinen drei ersten Kapiteln, wurde ihm klar, dass die Gerechtigkeit Gottes keine richtende Gerechtigkeit ist, sondern ein Handeln, das dem Menschen Gerechtigkeit und Heil schenkt. Aus Gnade schließt Gott den sündigen Menschen in die Gemeinschaft der Liebe ein. Das ist eine Gabe. Eine Gabe aber kann man nicht von sich selbst empfangen, man kann sich zu ihr nur im Vertrauen zu dem verhalten, der sie schenkt. Vertrauen ist dasselbe wie Glaube. Der Mensch wird erlöst, gerechtfertigt "allein aus Glauben". Der sündige Mensch kann nicht dadurch erlöst werden, dass er versucht, sich durch gute Werke der Frömmigkeit zu Gott emporzuschwingen. Das ist die "gute Botschaft", das Evangelium.

Luther, der seit 1513 Theologieprofessor an der Universität Wittenberg war, hatte Teile des Programms des Humanismus übernommen; er kannte den Ockhamismus und natürlich die gesamte gelehrte kirchliche Tradition. Aber bei seinen weiteren Studien wurde ihm klar, dass sich die scholastische Theologie in allen entscheidenden Punkten geirrt hatte: in der Auffassung vom Heil, vom Amt, von den Sakramenten, vom Ablass und von anderen Bereichen des Frömmigkeitslebens. In Vorlesungen und zahlreichen Schriften legte er seine neue Auffassung dar, und die Kirche reagierte, indem sie ihn zu mündlichen Diskussionen (Disputationen) einberief und schließlich einen Ketzerprozess gegen ihn anstrengte. Auf dem Reichstag in Worms 1521 wurde er als Ketzer verurteilt und für vogelfrei erklärt. Nach einem heimlichen Aufenthalt auf der Wartburg, während dessen er das Neue Testament ins Deutsche übertrug, kehrte er nach Wittenberg zurück, wo er seine Arbeit fortsetzte - mit Vorlesungen, Predigten sowie einem nie versiegenden Strom von Auslegungen, Traktaten, Liedern, polemischen Schriften und praktischen Anweisungen.

Luthers Auseinandersetzung mit der Theologie und der Kirche seiner Zeit begann mit seinem neuen Verständnis des Heils, aber es wurde rasch deutlich, dass dies große Veränderungen für das praktische Kirchenleben wie auch im sozialen Leben nach sich zog. Der Hauptgedanke in allem war, dass die wahre Kirche wie zur Zeit der Alten Kirche wiederhergestellt werden sollte (lateinisch reformatio, Wiederherstellung). Im Laufe des Mittelalters war die Kirche einem steten Verfall ausgesetzt gewesen. Ihre einzige Aufgabe indessen sollte die Verkündigung des Evangeliums sein. Sie sollte keine wirtschaftliche Macht besitzen. Nur die Mittel, die für den Unterhalt notwendig waren, sollten bereitgestellt werden; der Rest der kirchlichen Besitztümer durfte gern "nationalisiert" werden.

Die Kirche sollte weder politische Macht ausüben noch sich in staatliche Angelegenheiten einmischen, denn die weltliche Obrigkeit war von Gott eingesetzt und sollte in direkter Verantwortung vor ihm regieren. Umgekehrt sollte der Regent sich jeglicher Einmischung in die Verkündigung der Kirche enthalten. Soziale Arbeit und das Schulwesen, die bis dahin von der Kirche betrieben worden waren, sollten nun vom Staat übernommen werden, auch wenn die Kirche diese Dinge in einem gewissen Umfang weiter unterstützen konnte.

Der Gottesdienst und die gesamte kirchliche Arbeit sollten allein der Sache des Evangeliums dienen. Am wichtigsten waren Luther die Verkündigung des Wortes in der Predigt, der Gesang von Liedern und die Sakramente, die auf der Basis des Neuen Testaments auf Taufe und Abendmahl reduziert wurden. Zugleich betonte er das Recht und auch die Pflicht der Laien zur Verkündigung und ihre Verantwortung für das kirchliche Leben ("allgemeines Priestertum"). Im Abendmahl ist Christus wahrhaft in Wein und Brot gegenwärtig. Luther war zwar konservativ, was den Aufbau des Gottesdienstes und die Ausstattung der Kirchen anging, er verlangte gleichwohl, dass alles zu entfernen sei, was der Verkündigung des Evangeliums widerstreite: Seelenmessen, Prozessionen, Mönchs- und Nonnenwesen, Marien- und Heiligenverehrung, Reliquienkult, Pilgerreisen, Wallfahrten, Ablasswesen, Zölibat usw.

In den 1520er Jahren breiteten sich die Gedanken Luthers über weite Teile Deutschlands und die nordischen Länder aus. Neben der ständigen Konfrontation mit der römisch-katholischen Kirche musste sich Luther ebenso mit dem erasmianischen Humanismus auseinandersetzen und mit dem, was man den "linken Flügel der Reformation" genannt hat: Leuten, die von der direkten Wirkung des Heiligen Geistes in Menschen außerhalb der Kirche redeten (Andreas Bodenstein von Karlstadt), Leuten, die aus der Reformation sozialrevolutionäre Folgerungen ziehen wollten und die Bauern zum Aufstand aufriefen (Thomas Müntzer), Leuten, die meinten, dass die persönliche Aneignung des Glaubens so entscheidend sei, dass sie die Erwachsenentaufe anstelle der Säuglingstaufe forderten (Balthasar Hubmaier). Sie alle gingen von der Theologie Luthers aus, wichen aber nicht wenig von ihr ab.

Ein konzentrierter Ausdruck der wichtigsten Teile des lutherischen Glaubens wurde 1530 in dem von Philipp Melanchthon (1497-1560) verfassten "Augsburgischen Bekenntnis" (Confessio Augustana) formuliert, das auf dem Reichstag in Augsburg (1555) zum Kriterium dafür gemacht wurde, ob man sich "lutherisch" nennen durfte und damit im deutschen Reich neben den Katholiken Heimatrecht beanspruchen konnte.

Andere Formen des Protestantismus entwickelten sich in der Schweiz, zunächst u.a. um Huldrych Zwingli (1484-1531). Diesen "Reformierten" galten die Sakramente als Bekenntnis- und Verpflichtungszeichen. In der Kirche und im Gottesdienst wurde alles abgeschafft, was nicht ausdrücklich in der Bibel erwähnt war.

Auf demselben Flügel stand Johannes Calvin (1509-1564). Sein Ideal war die Theokratie, der christliche Staat, den er in Genf errichtete. Hier arbeiteten Kirche und weltliche Obrigkeit auf der Grundlage der Bibel in strenger Kirchenzucht wie in der Regulierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens zusammen. Das Abendmahl war für Calvin ein Gedächtnismahl, dessen Elemente lediglich äußere Zeichen der göttlichen Gnade sind, und er betonte nachdrücklich, dass Gott einige zum Heil vorherbestimmt habe, andere zur Verdammnis.

Die reformierte Konfession verbreitete sich vor allem in der Schweiz, in Nordfrankreich, den Niederlanden und in Schottland. In Deutschland erhielt sie in der Pfalz größten Einfluss. Hier wurde der "Heidelberger Katechismus" (1563) formuliert, der dann auch in einer Reihe von anderen calvinistischen Gebieten grundlegende Bedeutung erlangte.

Eine höchst spezielle Ausprägung erhielt der Protestantismus in England. König Heinrich VIII. (1509-1547) hegte persönlich humanistisch-katholische Ansichten, aber sein Ziel war eine Nationalkirche, die wirtschaftlich, administrativ und rechtlich von Rom unabhängig war. Doch auch seine wechselnden Ehen bestimmten seine Politik, die er mit großer Rücksichtslosigkeit verfolgte. Nach blutigen Auseinandersetzungen während seiner Regentschaft und unter seinen Nachfolgern entstand unter Königin Elisabeth I. (1558-1603) eine Nationalkirche mit der Regentin als Supreme Head and Governor. Die Gottesdienstordnung, das Gebetbuch Book of Common Prayer und die Bekenntnisschrift Die 39 Artikel (1563) bewahren viele Gebete und Zeremonien aus dem katholischen Mittelalter, in der Lehre vom Heil und den guten Werken folgte man dem Augsburgischen Bekenntnis, während die Abendmahlslehre calvinistisch war.

Die katholische Kirche war Luther und den anderen Protestanten mit vehementer Ablehnung begegnet, aber es zog sich zugleich auch - vor allem in Italien und Spanien - eine Erneuerungsbewegung durch Teile der Kirche. Eine Reihe von führenden Leuten stand hier zwischen Loyalität und protestantischen Auffassungen.

Seit den 1540er Jahren allerdings leitete die Kirche eine direkte Bewegung ein, um das verlorene Terrain zurückzuerobern. Dabei wurde der Jesuitenorden (Societas Jesu), gegründet von Ignatius von Loyola (1491-1556), zu einer effektiven Waffe. Seine hochausgebildeten Mitglieder konzentrierten sich auf die Mission, den Unterricht und die Arbeit als Beichtväter und Ratgeber an Fürstenhöfen. Die Bekämpfung der protestantischen Ketzerei und der modernen Wissenschaft wurde kraftvoll betrieben.

Von außerordentlicher Bedeutung war in diesem Zusammenhang das Konzil von Trient (1545-1563 mit Unterbrechungen). Es legte den römischen Katholizismus authentisch fest und verdammte die protestantischen Auffassungen. Eine "Liste verbotener Bücher", die ständig erneuert wurde (Index librorum prohibitorum), wurde erst 1966 abgeschafft. Neue Rituale wurden eingeführt, neue Lehrbücher erschienen. Die päpstliche Verwaltung aber wurde nicht reformiert. Der Papst ging gestärkt aus diesem Konzil hervor, dessen Wirkungen schwer zu überschätzen sind. Seine Beschlüsse blieben bis ins 20. Jahrhundert grundlegend für die römische Kirche.

4. Orthodoxie, Puritanismus, Pietismus und Aufklärung

Die vielfältigen Auseinandersetzungen der Reformationszeit mündeten in eine Phase der Konsolidierung. Im 17. Jahrhundert formierte sich die lutherische Staatskirche mit Bekenntniszwang und Konformität und scharfer Abgrenzung gegen Katholiken und Reformierte. Es wurde wichtig, die wahre Lehre so detailliert und klar wie möglich darzustellen und sich zugleich polemisch gegen die anderen abzugrenzen. Ein charakteristisches Beispiel sind die Loci theologici (Theologische Hauptpunkte) in neun großen Bänden von Johann Gerhard (1582-1637).

Doch es gab es auch andere Töne in dieser Periode der Orthodoxie (Rechtgläubigkeit). Johann Arndt stellte in seinen "Vier Büchern vom wahren Christenthum" (1605-1610) die Begegnung Gottes mit dem einzelnen Menschen in der Seele als das Wesentliche heraus, und er betonte Gebet, Buße, Askese und strenge ethische Lebensführung als Mittel zur endgültigen Vereinigung. Ferner fand das Interesse an der persönlichen Frömmigkeit seinen Ausdruck in der Liederdichtung, wo Philipp Nicolai (1556-1608) und Paul Gerhardt (1607-1676) poetische Werke schufen, die auch heute noch zu den beliebtesten in den lutherischen Gemeinden gehören.

Des ungeachtet, das 17. Jahrhundert wurde zu einem Jahrhundert der Gewalt. Der immer stärkere Gegensatz zwischen Lutheranern und Katholiken in den deutschen Ländern kulminierte im Dreißigjährigen Krieg (1608/09-1648), der faktisch in der kirchlichen Geographie nicht viel veränderte.

In den Niederlanden stieß die calvinische Orthodoxie auf ernsten Widerstand von Kreisen, die sowohl die Lehre von der Vorherbestimmung ablehnten als auch religiöse Toleranz und politische Freiheit forderten. Die Orthodoxen nahmen den Heidelberger Katechismus an. Verwirklicht wurde auch religiöse Toleranz, während sich gleichzeitig eine Erweckungsbewegung der Frömmigkeit in der Staatskirche ausbreitete.

In England und Schottland nahm der Gegensatz zwischen der Königsmacht und der Staatskirche auf der einen und aktivistischen frommen Kreisen, den Puritanern (den Reinen), auf der anderen Seite dramatische Formen an. Die Kämpfe führten schließlich zur Gestalt einer anglikanischen Hochkirchlichkeit, die ihren Ausdruck in einer episkopalen, von Bischöfen geleiteten Kirche fand, die sich kompromisslos von Katholiken und Puritanern distanzierte. Charismatische Bewegungen wurden verfolgt, und viele flüchteten und wanderten nach Amerika aus.

In Frankreich, dem Mittelpunkt des katholischen Europa, waren die Protestanten, Hugenotten genannt (französisch Huguenot, Eidgenosse), starken Verfolgungen ausgesetzt. Die von dem Theologen Cornelius Jansen(ius) d.J. (1585-1638) ausgehende Bewegung des Jansenismus, die den Katholizismus auf der Basis der Heilslehre Augustins erneuern wollte, verlangte persönlichen Ernst im Christenleben; überdies griff sie die Oberhoheit des Papstes an. Sie wurde 1713 von Papst Clemens XI. verboten, der mit diesem Verbot freilich auch Augustin und Paulus traf.

Bereits seit der Reformationszeit hatten sich Tendenzen bemerkbar gemacht, die persönliche Erfahrung und das persönliche Erleben höher zu bewerten als das objektiv Gegebene, das Wort der Schrift, die Lehre der Kirche und die Beschlüsse und Forderungen von Autoritäten und Behörden. Gewissen, Vernunft und Gefühl des Einzelnen öffneten den Weg zu Gott, meinte man, und dies fand seinen Ausdruck in den großen Bewegungen des 18. Jahrhunderts, dem Pietismus (lateinisch pietas, Frömmigkeit) und dem Christentum der Aufklärung.

Pietistische Tendenzen zeigten sich, wie erwähnt, in vielen europäischen Ländern. Deutlichere Konturen nahmen sie an, als Philipp Jakob Spener (1635-1705) in den Pia desideria (Fromme Wünsche, 1675) den Weg aufzeigte, auf dem die notwendige Verbesserung der Zustände in der lutherischen Kirche zu erreichen sei. Das Wort Gottes sollte durch fromme Laienkreise ("Konventikel") unter der Leitung des Pfarrers, durch Gebete und erbauliche Bücher verbreitet werden; die Pfarrerausbildung sei zu reformieren; der Christenglaube sollte sich in praktischer Liebesarbeit manifestieren. Höchst revolutionär war schließlich der Hauptgedanke Speners, dass die Laien in der Kirche zu aktivieren seien.

Dies alles wurde durch August Hermann Francke (1663-1727) weiter vertieft. Der Einzelne sollte nach seiner Auffassung einen persönlichen Prozess der Umkehr durchlaufen und danach ein aktives christliches Leben führen, auf weltliche Vergnügen verzichten; denn der Glaube sollte in frommen Handlungen sichtbar werden. Aus diesem Geist resultierte die Errichtung einer langen Reihe von Institutionen ("Stiftungen") in Halle - Waisenhaus, Armenschule, Lateinschule, Buchdruckerei, Apotheke, Bibelanstalt etc. -, wo Francke als Pfarrer und Professor tätig war. Von besonderer, epochaler Bedeutung war zudem der Beginn einer Mission unter Nichtchristen in Indien, getragen durch den Halleschen Pietismus in Zusammenarbeit mit dem dänischen König Friedrich IV., - die erste lutherische äußere Mission (1705).

Eine andere Gestalt nahm der Württembergische Pietismus an, der den Akzent mehr auf den Unterricht legte und die Erziehung als auf den persönlichen Bußkampf und Bekehrungsprozess.

Daneben entstand - sowohl in Deutschland als auch in Skandinavien - ein radikaler Pietismus, der oft in religiöse Schwärmerei ausartete, mit einer heftigen Kritik an der Staatskirche und ihren Pfarrern einherging und deshalb von den Behörden bekämpft wurde.

Eine besondere Variante des Pietismus schuf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760). Er organisierte die so genannte Brüdergemeine mit dem Mittelpunkt in der Kolonie Herrnhut (Oberlausitz), wo sich Flüchtlinge aus katholischen Verfolgungen in Böhmen niedergelassen hatten. Generell ähnlich den anderen Pietisten, entwickelten die Herrnhuter eine etwas abweichende Theologie, in der sie die Versöhnung im Blute Christi betonten und die Freude, die das "Erlebnis" dieser Versöhnung mit sich bringen musste. Sie distanzierten sich von der pessimistischen Lebenseinstellung und vom Bußkampf, organisierten sich in einer eigentümlich selbständigen Weise und waren aktiv in der äußeren Mission.

In England begann die Erweckungsbewegung John Wesleys (1703-1791), der Methodismus, innerhalb der Staatskirche; Ortsgruppen und Kleinkreisen oblag es, nach besonderen "Methoden" in Bibel- und Seelsorgearbeit das Heil des Einzelnen zu fördern. Doch die Bewegung entwickelte sich bald zu einer selbständigen Freikirche. Von Luther beeinflusst, stehen bei ihr Bekehrung und Heiligung im Mittelpunkt.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kam die Aufklärung zum Durchbruch. Sie war eine breite europäische Bewegung, die fast alle Bereiche des Lebens - Kultur, Wissenschaft, Religion - erfasste und sich nicht zuletzt auch im wirtschaftlichen Leben auswirkte. Ihre Wurzeln reichen zurück in den Humanismus der Renaissance, in die französische, deutsche und englische Philosophie und die Naturwissenschaft. Ein überschwängliches Vertrauen in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft und ein uneingeschränkter Optimismus führten zu rastloser Aktivität mit dem Ziel, die menschliche "Glückseligkeit" zu fördern. Das Menschenleben wurde säkularisiert, das Wesen des Staates sollte rein vernunftgemäß betrachtet werden, nicht religiös. Diese neue Gesinnung schloss Nachsicht und Toleranz ein.

Auch der Weg zur Verweltlichung des kulturellen Lebens lag nun offen. Theologen trugen die Auffassung vor, dass unabhängig von der christlichen Vorstellung einer göttlichen Offenbarung eine "natürliche Religion" existiere, die allen Menschen gemeinsam sei; denn ihre Prinzipien seien in allen angelegt. Gott solle in einem frommen und tugendhaften Leben verehrt werden, das in guter Übereinstimmung mit der Vernunft stehe, und dies werde Glückseligkeit sowohl hier als auch im Jenseits mit sich bringen. Solche Gedanken vertraten englische Aufklärungstheologen wie John Toland (1670-1722) und Matthew Tindal (1656-1733).

Dem einflussreichen deutschen Theologen Christian Wolff (1679-1754) galt die Vernunft nicht weniger als oberster Maßstab, doch er hielt zugleich am Eingreifen Gottes in die Geschichte fest, geschehen durch Offenbarung, die für ihn mit der Schrift identisch war und nicht im Gegensatz zur Vernunft stehen konnte; beide stammen von Gott. Am wichtigsten indes war für Wolff der praktische Nutzen der Religion, das moralische Leben, das die Glückseligkeit schenkt. Andere Aufklärer (u.a. Johann Michaelis und Johann Salomo Semler) gingen weiter und behaupteten, dass die Offenbarung Gottes nicht mit der Bibel identisch sei, wenn auch sehr wohl in ihr bezeugt. Dieser Ansatz führte weiter zu den ersten historisch-kritischen Untersuchungen der biblischen Schriften.

Der Optimismus in Bezug auf die Fähigkeiten der Vernunft freilich wurde von Immanuel Kant (1724-1804) in die Schranken gewiesen. Er legte dar, dass die Erkenntnis nur in der Welt der Erfahrung Gültigkeit besitze. Die Moral lasse sich nicht aus der Religion ableiten, sondern jeder Mensch besitze in sich das Bewusstsein vom Guten.

Von anderer Seite wurde das Christentum verhöhnt. Der französische Autor und Philosoph Voltaire (1694-1778) und die ihm Gleichgesinnten stellten sich äußerst skeptisch oder gar ganz ablehnend zu aller Religion; sie könne höchstens ein Mittel sein, den Pöbel zu regieren. Die menschliche Vernunft hingegen könne das Dasein völlig beherrschen, und durch "Aufklärung" könne man die Menschlichkeit und das Glück aller befördern.

Ein Mann wie Jean Jacques Rousseau (1712-1778) wollte die Religion nicht als veraltet ablehnen, aber er verwarf die christliche Lehre von der Offenbarung. Dagegen betonte er das religiöse Gefühl, die Achtung vor der Natur, dem Schönen und dem Erhabenen, denn dort finde man Gott. "Zurück zur Natur!" Denn dann wird das Gute sich überall ausbreiten!

Auch innerhalb der katholischen Kirche machte die Aufklärung sich mancherorts bemerkbar. Der Jesuitenorden wurde in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielerorts verboten, sei es, dass dies auf die Aufklärung zurückzuführen ist, sei es aufgrund einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dessen wirtschaftlichen und politischen Affären.

In Österreich und Deutschland forderte eine Erneuerungsbewegung vom päpstlichen Stuhl Reformen ein. Doch die "aufgeklärte" Staatskirche, die die Kaiser Joseph II. und Leopold II. in Österreich ins Leben riefen, konnte sich nicht lange halten.

5. Die römisch-katholische Kirche im 19. und 20. Jahrhundert

Die mit der Revolution in Frankreich (1789) und den napoleonischen Kriegen einhergehenden politischen Umwälzungen führten zu beispiellosen, bis dahin ungekannten Angriffen auf die katholische Kirche. Ein Konkordat zwischen Napoleon und dem Papst (1801) wurde vom Kaiser rücksichtslos gebrochen. Auch der Kirche in Deutschland fügte er große Verluste zu.

Infolge des Wiener Kongresses (1814/15) und nach dem Sturz Napoleons erlebte die Kirche indessen eine große Blütezeit. Der Kirchenstaat wurde wiedererrichtet. Die konservativen Tendenzen, die Romantik in der Literatur und Musik schlossen eine Ablehnung der damals modernen Gedanken der Aufklärung ein. Sie führten nicht selten zu religiöser Schwärmerei und zu einer Sehnsucht nach dem, was man für ein harmonisches katholisches Dasein im Mittelalter hielt.

Namentlich der Franzose Joseph M. de Maistre (1754-1821) hing solchen Ideen weiter nach. Er erklärte, dass man ausschließlich in der Kirchenautorität in Rom, d.h. dem souveränen, unfehlbaren Papst, eine Garantie für die friedliche Zukunft Europas habe. Der Papst auf der anderen Seite der Alpen sei der oberste Ratgeber in allen Fragen. "Ultramontanismus" (lateinisch ultra montes, jenseits der Berge) wurde diese außerordentlich einflussreiche Bewegung deshalb genannt.

Andererseits konnten die Forderungen nach Freiheit und Einfluss der Bürger nicht länger unterdrückt werden. Ein anderer Franzose, der Abt Hugues Félicité Robert de Lamennais (1782-1854), stellte sich an die Spitze eines liberalen Katholizismus, der für die Volkssouveränität eintrat, für die Trennung von Staat und Kirche, für die Freiheit in den Bereichen von Unterricht und Presse. Seine Vorstellungen, dass sich dies für die Kirche nur als ein Vorteil erweisen werde, wurden von Papst Gregor XVI. vom Tisch gewischt; er verurteilte dies alles.

Sein Nachfolger Pius IX. (1846-1878) führte diese politisch und kirchlich reaktionäre Politik fort, zumal mit Hilfe des Jesuitenordens, und er verstand es vortrefflich, sich der ultramontanen Bewegung politisch, religiös und sozial zu bedienen. Überall in den europäischen Ländern machte er sich die jeweilige Religionsfreiheit zunutze, um die Interessen der Kirche wahrzunehmen, während er zugleich im Kirchenstaat alle Forderungen nach Freiheit und Mitbestimmung des Volkes zurückwies. In der Theologie reanimierte er den Normaltheologen Thomas von Aquin, lehnte alle und alles andere ab und damit auch die moderne historisch-kritische Methode.

Hinzu kam die Organisation einer zentral gelenkten gigantischen Volksfrömmigkeit, in deren Mittelpunkt die Marienverehrung stand. In einem Dogma wurde die Unbefleckte Empfängnis Mariens proklamiert (1854). Die französische Stadt Lourdes in den Pyrenäen, wo Maria angeblich erschienen war (1858), wurde zu einer der wichtigsten Wallfahrtsstätten - und ist es bis heute geblieben. Durch weitere Initiativen gelang es Pius IX., die Volksfrömmigkeit mit dem Nationalgefühl zu verknüpfen. Seine Audienzen waren professionell inszeniert und hatten - u.a. dank der Erfindung der Eisenbahn - enormen Zulauf.

Als Antwort auf die Kritik der Liberalen verurteilte er in einem päpstlichen Rundschreiben (der Enzyklika Quanta cura mit dem beigefügten Syllabus errorum) 80 der "schlimmsten Irrtümer unserer Zeit", u.a. Liberalismus, Sozialismus, Protestantismus, Freiheitsforderungen für Presse und Wissenschaft, ja den gesamten "Fortschritt und die moderne Kultur". Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) beschloss man, auf dieser Linie konsequent, ein Dogma, das den Papst als den Inhaber der gesamten bischöflichen Autorität der Kirche proklamiert und das erklärt, er sei unfehlbar, wenn er sich ex cathedra (lateinisch: vom Lehrstuhl aus) über den Glauben und die Sitten äußere, was gültig sei für die ganze Kirche.

Wenig später brach der deutsch-französische Krieg aus. Während des italienischen Freiheits- und Einheitskampfes wurde der Kirchenstaat erobert und in das neue vereinte Italien eingegliedert. Der Papst erhielt u.a. das Nutzungsrecht über die Peterskirche. Das Angebot einer Barzahlung lehnte er ab. Er und seine Nachfolger betrachteten sich vielmehr von nun an als "Gefangene im Vatikan", den sie bis zur Neuordnung 1929 nicht verließen.

Dennoch betrieb man eine nach außen gerichtete Politik mit dem Ziel, überall eine katholische Entwicklung der Gesellschaft zu fördern. Ein Rundschreiben steckte die Richtlinien für eine katholische Sozialpolitik ab (Enzyklika Rerum novarum, 1891). In Preußen endete ein langwieriger "Kulturkampf" zwischen Bismarck und dem Papst zugunsten des letzteren. In Spanien, Österreich und Belgien stärkte die Kirche ihre Stellung ebenfalls. In Frankreich wurden Kirche und Staat getrennt (1905).

1929 traf Papst Pius XI. ein Übereinkommen mit dem faschistischen Diktator Mussolini, infolge dessen der heutige Vatikanstaat eingerichtet wurde. Der Papst wurde zum Souverän erklärt, der Katholizismus wurde zur Staatsreligion Italiens. Die Vorteile für die Kirche waren deutlich, doch auch Mussolini gewann - daheim wie im Ausland - Prestige. Ein weiteres Konkordat mit Hitler, 1933, wurde von diesem bald gebrochen, als er seine Propaganda gegen die Kirche ins Werk setzte und katholische Geistliche zu verfolgen begann.

Der Papst verurteilte die nazistische Weltanschauung. Doch während des Krieges erklärte er sich neutral. Auch vermied er den offenen Protest gegen die Judenausrottung, wenngleich er heimlich Juden half. Bei unterschiedlichen Gelegenheiten, bis in die 1950er Jahre hinein, wurde der Kommunismus mehrfach strikt verurteilt.

Ungeachtet der reaktionären Linie des Papsttums breitete sich seit den 1920er Jahren in Belgien und Deutschland eine so genannte liturgische Bewegung aus, welche die Rolle der Laien in der Kirche entschieden in das Denken einbezog. Ihre Heimat fand diese "Neue Theologie" in Frankreich (Yves Congar, Henri de Lubac, Teilhard de Chardin u.a.). Sie stand der bisherigen Theologie kritisch gegenüber, distanzierte sich von der übersteigerten Marienverehrung und unterstützte die Aktivität der Laien in der Kirche. Vonseiten des päpstlichen Stuhls allerdings erfuhr sie Kritik, Zensur und Strafe.

Das Zweite Vatikanischen Konzil (1962-1965), von Papst Johannes XXIII. (gest. 1963) einberufen, versuchte, darin nicht unangefochten, die Kirche der Gegenwart anzupassen (Stichwort aggiornamento). Die ihm folgenden Päpste allerdings waren weniger fortschrittsfreundlich eingestellt als der Initiator des Konzils. Der gegenwärtige Papst, Johannes Paul II. (seit 1978), scheint im Gegenteil im Hinblick auf die Theologie, die Moraltheologie, die Anweisungen zum Frömmigkeitsleben und die Ökumene eine eher reaktionäre Haltung einzunehmen, obschon er sich bemüht, die Kirche als Weltkirche vorzustellen. Heiligsprechungen und Marienverehrung haben zurzeit einen Umfang wie in den Tagen des Ultramontanismus. Die Bemühungen um die ökumenische Gemeinsamkeit scheinen zum Stillstand gekommen zu sein.

6. Die protestantischen Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert

Für den Protestantismus war wie so oft die Entwicklung in Deutschland besonders bedeutsam und weit reichend in ihrer Wirkung. Die Not und das Elend der napoleonischen Kriege und die Befreiungskriege führten zunächst zu stark nationalen Gefühlen mit deutlich religiösen Untertönen, denen Männer wie Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) und Ernst Moritz Arndt (1769-1860) exemplarischen Ausdruck verliehen. Diese Tendenzen verstärkten sich noch, als mit dem preußischen Kaisertum eine nationale Einheit geschaffen wurde. Die konservativen Kräfte setzten sich über die liberalen Forderungen nach Freiheit und Demokratie, wie sie in den Revolutionen von 1830 und 1848 laut geworden waren, radikal hinweg.

Eine Erweckungsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließ insonderheit lutherische, romantische und nationale Gefühle aufblühen. Andererseits sahen sich Kirche und Christentum heftigen Angriffen ausgesetzt - sowohl von Intellektuellen als auch von den Arbeitern, die unter der sozialen Not litten. Die Kirche erlebte ihre größte Krise. Aufgespalten in viele Gruppen und Gruppierungen, konnte sie freilich, anders als die katholischen Kirche, keine einige Front zur Verteidigung mobilisieren.

In der Theologie setzte sich Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) kritisch mit dem Christentum der Aufklärung auseinander. Er wies der Religion ihren eigenen Platz in der menschlichen Seele zu. Durch das Wort und die Sakramente der Kirche - so seine These - pflanzen sich die erlösenden Kräfte Christi fort, so dass der Mensch die sinnliche Natur überwinden kann.

Führend in der Philosophie eines so gearteten Idealismus war Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Er zeigte in einem groß angelegten System auf, wie der Geist Gottes sich in der Welt entfaltet. Religion sei nicht ein Gefühl, sondern bedeute Erkenntnis, und im Protestantismus habe diese ihre Vollendung erreicht.

Einige Theologen in der Tradition der hegelschen Philosophie wandten sich weiter nach rechts (sog. Rechtshegelianer) und wollten das unerschütterliche Vertrauen in den Inhalt der Bibel mit einer persönlichen Heilserfahrung vereinen; auf dieser Basis unterstützte man die neupietistischen Erweckungsbewegungen. Andere aber, u.a. David Friedrich Strauß (1808-1874), gingen einen anderen Weg und lehnten die Offenbarung und die biblischen Berichte über Christus als reine Mythen und Phantasieprodukte ab.

Die "Tübinger Schule" um Ferdinand Christian Baur (1792-1860) widmete sich einer seriösen wissenschaftlichen Erforschung der biblischen Schriften. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein reichte der Einfluss der liberalen historisch-kritischen Theologie.

Nachhaltige Impulse gingen ebenso von der "Religionsgeschichtlichen Schule" aus. Auf der Grundlage ihrer Forschungsergebnisse begann man um 1900, die alleinbeherrschende Stellung, die das Christentum bis dahin im Selbstverständnis des Abendlandes gehabt hatte, zunehmend kritisch zu sehen. Und man wurde aufmerksam auf den engen Zusammenhang zwischen Christentum, Hellenismus und Judentum, nahm ihn nunmehr ausdrücklich wahr.

Angesichts der unbeschreiblichen menschlichen Not und des Elends, die eine Folge der Industrialisierung waren, gewann die soziale Frage besondere Dringlichkeit. Die Theorien von Marx, Engels und Lenin verwarfen die Religion als eine reine Illusion. In England hingegen wollten christliche Sozialisten wie Frederick Dennison Maurice und John Malcolm Ludlow die Übereinstimmung zwischen dem Sozialismus und dem Christentum erweisen, stießen bei den Arbeitern allerdings auf keine größere Resonanz.

In Deutschland ergriffen lutherische Theologen die Initiative zu einer Reihe von Maßnahmen, um der Not abzuhelfen, so etwa Theodor Fliedner mit der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth (Düsseldorf), 1837, Johann Hinrich Wichern mit seinen Einrichtungen der "Inneren Mission" in Hamburg (seit 1833) und anderswo und Friedrich von Bodelschwingh mit den Siechenanstalten und Arbeiterkolonien in Bethel bei Bielefeld (1867).

Während des Ersten Weltkriegs wurden protestantische Theologen wie auch katholische von einer Kriegsbegeisterung erfasst, in der Nationalismus und Religion sich miteinander verwoben. Mit dem Ende des Kaiserreichs jedoch kam es zur Aufhebung der protestantischen Staatskirche. In der neuen deutschen Republik nach der Niederlage wurden 28 Landeskirchen organisiert: lutherische, reformierte und unierte. Zugleich setzte sich die antichristliche Agitation fort und hatte Massenaustritte aus der Kirche zur Folge.

Einen eigenständigen Versuch, die Arbeitermassen zu erreichen, unternahm die religiös-soziale Bewegung um den Schweizer Leonhard Ragaz (1868-1945). Er begriff den Sozialismus ganz und gar als einen Ausdruck des Willens Gottes und strebte eine irdische Verwirklichung des Reiches Gottes an.

Doch zu einem wirklichen Neuanfang in der Theologie kam es dann (seit 1919) mit dem reformierten Theologen Karl Barth (1886-1968). Seine "Dialektische Theologie" bekräftigte den unendlichen Unterschied zwischen Gott und dem sündigen Menschen. Die Gnade Gottes komme zum Menschen "senkrecht von oben", allein in der Offenbarung in Christus begegnen wir Gott. Dies bedeutet eine totale Ablehnung jeder natürlichen Religion wie des gefühlsmäßigen pietistischen Erweckungschristentums. Später hat Barth freilich auch von der Notwendigkeit christlichen Tuns reden können.

Von bedeutendem Einfluss blieb daneben das theologische Programm Rudolf Bultmanns (1884-1976). Seine Forderung nach einer "Entmythologisierung" der biblischen Schriften setzte starke Akzente, die bis heute Wirkung zeitigen.

Eine Gruppe lutherischer Geistlicher, seit 1932 in der "Glaubensbewegung Deutsche Christen" zusammengeschlossen, suchte den Anschluss an die nationalsozialistische Ideologie. Adolf Hitler galt ihnen als die von Gott eingesetzte weltliche Obrigkeit, der man Gehorsam schulde; sie unterstrichen die Überlegenheit der arischen Rasse zumal gegenüber der "semitischen", d.h. den Juden; sie bemühten sich um eine gezielte Germanisierung des Christentums. Ihre Gegner organisierten sich alsbald in der "Bekennenden Kirche", die mit der "Barmer Erklärung" (Mai 1934) die Grundlage und den Ausgangspunkt ihres Widerstandes als theologisch begründete Absage an die Deutschen Christen formulierte. Nach dem Kriege veröffentlichte die Leitung der Evangelischen Kirche in ihrer Tradition ein Schuldbekenntnis, die "Stuttgarter Schulderklärung" (Oktober 1945), und bahnte so ihrer Rückkehr in die Ökumenische Kirchengemeinschaft den Weg.

In der Bundesrepublik Deutschland sind Staat und Kirche getrennt. Der Staat wies der Kirche beim Wiederaufbau gleichwohl eine gewichtige Rolle zu. So spricht man jetzt gern von einer "Partnerschaft" zwischen beiden, die bedingt, dass der Staat den Kirchen gewisse Privilegien in Bezug auf Kirchensteuern, Militärseelsorge, Religionsunterricht und Pfarrerausbildung einräumt. Auch wenn es gelegentlich erneut zu antikirchlichen Kampagnen kam, scheint die Mitgliederzahl der großen christlichen Kirchen bei 85% der Bevölkerung zu liegen (42% Evangelische, 43% Katholiken).

Im Osten Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), war die Kirche viele Jahre staatlicher Repression ausgesetzt, bis es 1968 in einer Absprache zu einem modus vivendi kam. Des ungeachtet nahm der Prozess der Entchristlichung seinen Lauf. Bei der Auflösung des Staates 1989/1990 allerdings erwiesen die Kirchen sich als Sammlungsstätten der Opposition.

Literatur

Martin Schwarz Lausten, Abendländische Kirchengeschichte: Grundzüge von den Anfängen bis zur Gegenwart. - Frankfurt am Main u.a. 2003.

 


Prof. Dr. Martin Schwarz Lausten, Kopenhagen
E-Mail: msl@teol.ku.dk