„Menschenrechte” im Alten Orient und im Alten Testament [1]

Eckart Otto

1. Menschenrechte und Bibel

Die rechtliche Anerkennung von Menschenrechten, d. h. von Grundrechten, die jedem Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status zukommen, ist ein Kennzeichen der Moderne – die Ideen aber gehen bis weit in die Antike des westlichen und östlichen Mittelmeerraumes zurück. Erst die Überführung der Ideen in den Bereich des Rechts unterscheidet die Moderne seit der Aufklärung grundlegend von der Antike. Die Wurzeln aber der heutigen Ansätze einer rechtlich verbindlichen Formulierung von Menschenrechten in nationalen und internationalen Zusammenhängen zu erheben und immer genauer zu erfassen, ist nicht nur von rein historischem Interesse, sondern von Bedeutung, wenn es um die eigentliche Frage geht, welche Chancen die vielfältig formulierten Kataloge von Menschenrechten auf Durchsetzung in der Zukunft haben. In keinem Jahrhundert der Menschheitsgeschichte wurden so umfassend Menschenrechte deklariert und gleichzeitig so blutig verletzt wie in dem zu Ende gehenden. Die Erforschung der Wurzeln der Menschenrechtsideen hat im Horizont dieser Frage nicht nur deshalb eine große Bedeutung, weil bekanntlich alle Geschichtsschreibung rückwärtsgewandte Prophetie ist, sondern weil die historische Rückfrage Auskunft geben kann, wenn es darum geht, zu erheben, welche gesellschaftlichen Gruppen durch ihr Herkommen prädestiniert sind, Agenturen der Durchsetzung von rechtlich verbindlichen Menschenrechten zu sein. Und da ergibt sich in bezug auf die Kirchen ein paradoxes Bild. Die Idee der Menschenrechte hat eine ihrer Wurzeln in der griechisch-römischen Antike, der Idee der attischen Demokratie und der Idee der Toleranz, die in hellenistischer Philosophie Raum gewonnen hatte und an die die Aufklärung anknüpfen konnte. Wo sich im 18. und 19. Jh. n. Chr. die Kirchen der Aufklärung als Widerlager entgegenstellten, kam es auch zu expliziter Ablehnung der Menschenrechtsidee. Diese Haltung der Kirchen verdunkelte, daß die biblische Überlieferung des Kanons, insbesondere die Hebräische Bibel, deren Auslegung insgesamt zu einer Wiege der Moderne wurde [2], eine wesentliche Wurzel der Menschenrechtsidee ist. Die Kirchen sind also allen Verdunkelungen zum Trotz an ihre eigene biblische Grundlage gewiesen, der sie treu bleiben, wenn sie sich zu Vorkämpfern der rechtlichen Realisierung der Menschenrechte machen. Die Tradition der Hebräischen Bibel als Teil des christlichen Kanons steuert Aspekte zur Menschenrechtsthematik bei, die in der klassischen Antike und ihrer Rezeptionsgeschichte keinen oder einen nur geringen Anhalt haben:

1. Die klassische Idee der attischen Demokratie hat ihre Begrenzung nicht allein darin, daß sie Teilen der Gesellschaft wie Sklaven und Frauen die Partizipationsrechte vorenthielt, sondern vor allem darin, daß sie keinen Begriff zur Unterscheidung hatte zwischen "täglichen Dingen" im Sinne von "common affairs" oder "things indifferent", wie sie in Richard Hookers Rechts- und Staatstheorie [3] bezeichnet werden, die der demokratischen Mehrheitsentscheidung unterliegen, und Gewissens- und Grundwertentscheidungen des je einzelnen Individuums, "things necessary", "foundation of faith" oder "general ground whereupon we rest", wie Richard Hooker sie nennt, die majoritäts- und suprematiefest sind und nicht politisch zur Disposition gestellt werden können. Es war ein entscheidender Schritt für die Entwicklung der Idee der Menschenrechte im 16. und 17. Jh. n. Chr. in niederländischer und englischer Staatsrechtstheorie, diese Unterscheidung eingebracht zu haben, da sie einerseits eine theokratische Gesellschaftsgestaltung nach puritanischem Muster, die auch "common affairs" der täglichen Dinge der Bibel folgend regeln will, abwehrt, wie auch eine Verabsolutierung des Mehrheitsprinzips [4]. Der Ursprung dieser für die Menschenrechtsfrage zentralen Unterscheidung ist in der Hebräischen Bibel, genauer im Buch Deuteronomium zu finden. Wir werden uns ihr zunächst zuwenden.

2. Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die 1947 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, verweist in ihrer Präambel auf die "Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte" als "Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt". Im ersten Artikel dieser Erklärung wird festgestellt, daß alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren seien. Die Begründung der Menschenrechte mit der Menschenwürde wird im Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 noch deutlicher, wenn es dort heißt:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."

Die Begründung der Menschenrechte durch das Motiv der jedem Menschen zukommenden Würde wird ihrerseits begründet durch die natürliche Ausstattung des Menschen mit der Vernunft. In Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird die Feststellung, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit der Aussage einer allen Menschen innewohnenden Vernunftbegabung begründet:

"Sie (sc. alle Menschen) sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."

Diese auf die Frühaufklärung zurückgehende Argumentationsfigur knüpft an die stoische Philosophie an und hat sich u.a. bei Blaise Pascal mit der Feststellung "l’homme est visiblement fait pour penser; c’est toute sa dignité et tout son mérite" (Pensées, Frag. 146) [5] und Samuel von Pufendorf mit der Aussage, die Würde des Menschen bestehe in der Unsterblichkeit der Seele und in dem Umstande, daß er "mit dem Lichte des Verstandes ... begabt ist" [6], niedergeschlagen. In der kantischen Fassung kommt Würde dem zu, das "über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet" [7] und also niemals bloß Mittel zu fremdem Zweck sein kann. Die Bedingung ist die vernünftige Selbstbestimmung aus Freiheit, d. h. die Sittlichkeit, die den Menschen als vernünftiges Wesen voraussetzt, so daß ihm als solches Würde zukommt. Angesichts der Historisierung der Vernunft und ihrer damit verbundenen notwendigen Kritik als einer mit sich identisch-transzendentalen im 19. Jh., die durch die Erfahrungen im 20. Jh. bestätigt wurde, kann dieser Ansatz der Begründung der Würde des Menschen nicht mehr ausreichen. Zwar kommt eine derartige, sich naturrechtlicher Argumentationsfiguren bedienende Begründung dem Gebot religiöser Neutralität moderner Staaten entgegen, doch ist zu fragen, ob nicht die der anthropologischen Transformation der Begründung der Menschenwürde vorausliegenden religiösen Traditionswurzeln dieses Motivs angesichts der Schwäche der naturrechtlichen Vernunftsbegründung wieder an Bedeutung gewinnen [8], nicht, um sie in den internationalen und nationalen jeweils multireligiös geprägten Dialog als verbindliche Grundlage zur Begründung der Menschenrechte einzuführen, sondern um die in ihnen aufgehobenen Motive, die universalisierbar sind, zu erfassen und in den Dialog einzubringen, d. h. auch in den Kontext jeweils anderer Weltreligionen und in deren Logik denkend zur Sprache zu bringen. Das setzt voraus, daß sie im Horizont christlicher Theologie zunächst im Rahmen einer Theologie der Religionen zur Sprache zu bringen wären, die eine dringendes Desiderat ist. So in den Blick genommen kommt dem Motiv der Gottebenbildlichkeit in der Hebräischen Bibel und seiner Rezeptionsgeschichte eine große Bedeutung zu [9], der in einem weiteren Abschnitt nachzugehen ist.

3. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1966 zwei Menschenrechtspakte, wobei der erste die bürgerlichen und politischen Rechte an die Menschenrechtserklärung von 1948 anknüpfend behandelt, der zweite wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, zu denen die auf Arbeit, soziale Sicherheit, angemessenen Lebensstandard und Ausbildung gehören. Die Formulierung derartiger Gebotsnormen ist traditionsgeschichtlich gar nicht denkbar ohne die Sozialgesetzgebung der Hebräischen Bibel als Heilige Schrift in Christentum und Judentum, die auch im Islam rezipiert wurde und also prägenden Einfluß auf drei Weltreligionen gewonnen und durch diese angestoßen weltweite ideengeschichtliche Wirkung auch über diese Religionen hinaus hatte [10]. Im Deuteronomium bricht sich ein geschwisterliches Solidarethos Bahn, das sich von Strukturen gentil begründeter Solidarethik löst und – in der kulturhistorischen Bedeutung nicht hinter der Reform des Kleisthenes in Griechenland [11] zurückstehend – jeden Judäer zu einem "Bruder" werden läßt. Dem ist in einem dritten Abschnitt nachzugehen.

4. Die Frage nach der Zukunft der Menschenrechte ist im Kern die Frage, ob sich in nationalem oder internationalem Rahmen pazifizierte Formen der Konfliktregelung und des Interessenausgleichs finden lassen, die den Menschenrechten eine Chance geben. Auf eine prinzipielle Zustimmung zur Idee der Menschenrechte wird man weithin stoßen – die Frage ist nur, ob sie auch dann gewahrt und beachtet werden, wenn sie der Durchsetzung eigener Interessen entgegenstehen, was sich nicht nur in der Einschränkung gewalttätiger Auseinandersetzungen in Kriegen und Bürgerkriegen zeigen müßte, sondern auch in der Wahrung der zivilen Grundrechte in der politischen Auseinandersetzung und – besonders prekär – in der Begrenzung wirtschaftlicher Macht zugunsten der wirtschaftlich und sozial Schwächeren, d. h. der Einschränkung einer grenzenlosen Konkurrenz. Die Idee der Menschenrechte hat in diesem Sinne einen statischen Zug, als sie nur indirekt mit der Frage der gesellschaftlichen Konfliktregulierung als Formulierung von Abwehrrechten verbunden ist. Die Bibel enthält sehr durchschlagend reflektierte Überlegungen zur friedlichen Austragung von Konflikten und zur Konfliktüberwindung. Dem ist in einem letzten Abschnitt nachzugehen.

2. Die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte

Der erste Pakt der Menschenrechte von 1966 enthält die in der Verfassungsgeschichte westlicher Demokratien zur Geltung gekommenen Freiheitsrechte, die im Kern Abwehrrechte des Einzelnen gegen Übergriffe von Staat und Gesellschaft sind, deren Verletzung gerichtlich überprüft werden kann. Dazu gehören u.a. Grundrechte wie das Recht auf Leben, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, ferner die politischen Partizipationsund Justizgrundrechte. Mit der Durchsetzung dieser Freiheitsrechte verbindet sich die Frage nach den Grenzen staatlicher Macht. Die Menschheit stand und steht in ihrer Geschichte stets vor der Entscheidung, ob aus dem Staat als umfassender Organisationsform einheitsstiftende Lebensermöglichung resultiere, ihm also die individuellen Wünsche, Projektionen und Sehnsüchte unterzuordnen, ja zu opfern seien, wenn nur vom Staat sittliches, vernünftiges und rechtmäßiges Leben durchgesetzt werden kann. Stets steht im Hintergrund einer derartigen Wertung des Staates eine pessimistische Anthropologie, die den Menschen aus eigenem Vermögen seiner Natur kein vernünftiges Handeln zutraut, ja den natürlichen Menschen für die Leiden und Entfremdungen in dieser Welt verantwortlich macht. Eine in sich geschlossene Konzeption von imponierender Stringenz und Dichte wurde im antiken Ägypten mit der Göttin Ma’at als Zentrum der offiziellen Staatsideologie ausformuliert [12]. In der göttlichen Welt respräsentiert die Göttin Ma’at Gerechtigkeit und Stabilität des Weltganzen, die auf der politischen Ebene im ägyptischen König inkorporiert sind. Unabhängig vom Staat und der durch ihn aufrechterhaltenen Ordnung gebe es keine Gerechtigkeit, die im Sinne der iustitia connectiva gedacht ist: Solidarisches Handeln findet seinen Ort im kollektiven Langzeitgedächtnis, das Solidarität dem solidarisch Handelnden zukommen läßt, wenn er ihrer bedarf [13]. Die sog. "Auseinandersetzungsliteratur" des Mittleren Reiches als Reaktion auf die Erfahrungen des Zusammenbruchs staatlicher Ordnung in der "ersten Zwischenzeit" sieht sich durch die Erfahrung in dem Gedanken bestätigt, daß nur im König verkörperte staatliche Ordnung Gerechtigkeit im Sinne des Zusammenhangs von Tat und Ergehen zu sichern vermag. Ohne staatliche Ordnung herrsche der blanke Egoismus, die "Habgier" (ägypt. wn jb), der der Gerechte ohne den Staat schutzlos ausgeliefert sei [14]. Daß dieses Staatskonzept durchaus umstritten war, zeigt die Tatsache, daß die Hebräische Bibel eben diesen Staat als "Sklavenhaus" bezeichnet. Das läßt nach alternativen Staatskonzeptionen in der Antike fragen. Auf den ersten Blick legt sich die attische Demokratie als Gegenmodell nahe. In den Monumentalinschriften des persischen Königs Darius I. schlägt sich die Anschauung der Achaimeniden nieder, ihnen sei die Herrschaft durch den Schöpfergott Ahuramazda als der Weltordnung (arta-) entsprechende verliehen. Der König sei Werkzeug im Kampf gegen die zerstörerischen, ordnungsfeindlichen Mächte (draùuga-) der Völkerwelt [15]. Die Weltordnung weise jedem Volk seinen spezifischen regionalen und kultischen "Ort" (gathu-) mit Persepolis als Zentrum zu [16]. Das "Gesetz" (data-) des Königs diene der Sicherung und Wiederherstellung der Ordnung der Völkerwelt entsprechend der Weltordnung des Schöpfergottes. Die Idee der Isonomie und herodotischen Isegorie der attischen Demokratie und ihrer Vorstufen [17] kann als ein Gegenmodell und die Perserkriege als die Auseinandersetzung um diese beiden Staatstheorien verstanden werden [18]. Doch auch die attische Staatstheorie weist, worauf schon hingewiesen wurde, eine sehr entscheidende Schwäche auf, differenziert sie doch nicht zwischen Bereichen, die der politischen Entscheidungsfindung unterliegen, den "common affairs", und solchen prinzipieller Wertentscheidung, die der politischen Entscheidung durch die Mehrheit entzogen sind – mit anderen Worten, sie reflektiert nicht auf die Grenzen politischer Willensbildung. Sie aber sind das entscheidende Element der Idee der Menschenrechte als Abwehrrechte. So wird man sich weiter umzusehen haben, wo dieser Gedanke in der Antike Raum griff, und das war in der Hebräischen Bibel. Erst der Zusammenfluß beider Quellen, der biblischen und der klassischen in den Niederlanden und in England im 16. und 17. Jh., konnte zur Initialzündung der modernen Entwicklung der politisch-rechtlichen Realisierung der Menschenrechtsidee werden, konnte doch die Idee der Isonomie der attischen Demokratie die calvinistisch-puritanische Ordnung des gesamten öffentlichen Lebens nach biblischen Regeln in die Schranken weisen und umgekehrt die biblische Tradition die Entscheidungskompetenz demokratischer Willensbildung auf die "common affairs" beschränken.

Die neuassyrische Krise des 8. und 7. Jh. v. Chr. war eine erste Formierungsphase literarischer Überlieferungen der Hebräischen Bibel, in die auch die mittelbare Auseinandersetzung des Deuteronomiums mit der neuassyrischen Staatsidee fällt, von der der Krönungshymnus des assyrischen Königs Assurbanipal, der auf der Tafel VAT 13831 des Vorderasiatischen Museums zu Berlin erhalten ist [19], einen guten Eindruck gibt:

"Möge Úamaš [20], König von Himmel und Erde,
dich in das Hirtenamt über die ganze Welt einsetzen!
Möge Aššur, der dir das Szepter übergab,
deine Tage und Jahre erleuchten!
Mache das Land weit zu deinen Füßen!
Möge Úerua [21] deinen Namen vor deinem
Gott lobend erwähnen!
Genau so gut wie Getreide und Silber, Öl,
die Rinder des Sakkan [22] und das Salz von Bariku [23]
gut sind, so
möge Assurbanipal, der König von Assyrien, auf
Wohlwollen der Götter dieses Landes treffen!
Mögen Beredsamkeit, Verständnis, Recht (kettu) und
Gerechtigkeit (mēšaru) [24] ihm als Gabe geschenkt sein!
Mögen die Bürger von Aššur 30 Kor [25] Getreide für einen
Schekel Silber kaufen! Mögen die Bürger von Aššur
3 Seah Öl für einen Schekel Silber kaufen! Mögen die Bürger
von Aššur 30 Minen Wolle für einen Schekel Silber kaufen!
Möge der Geringere sprechen und der Mächtigere zuhören!
Möge der Mächtigere sprechen und der Geringere zuhören!
Mögen Eintracht (mitgurtu) und Friede (salīmu)
in Assyrien aufgerichtet werden (lišakin)!
Aššur ist König – wahrhaftig Aššur ist König (Daššur LUGAL).
Assurbanipal ist der [Repräsentant] des Gottes Aššur,
Geschöpf seiner Hand.
Mögen die großen Götter seine Regierung befestigen!
Mögen sie das Leben Assurbanipals, des Königs von Assyrien, schützen!
Mögen sie ihm ein mächtiges Szepter geben,
um seine Herrschaft über Land und Völker auszudehnen!
Möge seine Königsherrschaft erneuert werden und mögen sie
seinen Königsthron auf ewig befestigen!
Mögen sie ihn segnen tagelang, monatelang,
jahrelang und seine Königsherrschaft beschützen!
Mögen ständig während seiner Regierungsjahre
Regen vom Himmel fallen und Flut aus den
Quellen aufsteigen!
Gib unserem Herrn Assurbanipal lange,
reiche Jahre, starke Waffen, eine lange Königsherrschaft,
Jahre des Überflusses, einen guten Namen,
Ruhm, Glück und Freude,
günstige Orakel und Herrschaft über (alle) Könige!"

Dieser Krönungshymnus zeigt unmißverständlich den Modus der Herrschaftslegitimation in Assyrien durch den Gedanken, der König sei Repräsentant des Nationalgottes Aššur, der im Pantheon die Funktion des Königsgottes wahrnimmt [26]. Die enge Beziehung zwischen dem göttlichen Königtum des Nationalgottes und dem des assyrischen Königs als Herrn über die gesamte Völkerwelt wird durch den Königsruf für Aššur "Aššur ist König – wahrhaftig Aššur ist König" im Thronbesteigungshymnus des assyrischen Königs zum Ausdruck gebracht, an den sich die Funktionsbestimmung des assyrischen Königs als Kernaussage der Herrschaftslegitimation anschließt:

"Assurbanipal ist der [Repräsentant] [27] des Gottes Aššur, Geschöpf seiner Hand".

Nicht eine demokratische Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung legitimiert die Herrschaft, sondern die Akzeptanz durch die Götter, wobei in diesem Hymnus mehrere Motive miteinander konkurrieren. Einerseits ist die Verbindung des Königs mit dem göttlichen Pleroma des Pantheon schöpfungstheologisch begründet, wenn der König Repräsentant (xalam DAššur), Geschöpf dieses Gottes ist [28]. Gleichzeitig aber soll auch die Göttin Úerua, die Partnerin oder Tochter des Gottes Aššur, für den König als Vermittlerin bei Aššur als seinem persönlichen Gott vorstellig werden, seinen "Namen lobend erwähnen", damit Assurbanipal "auf das Wohlwollen der Götter treffe". Die Götter sichern (šakānu: "befestigen") die Königsherrschaft Jahr für Jahr (palû) [29], die sich auf den ganzen Weltkreis, die "vier Regionen", erstrecken soll. In diesem Sinne wird neben den beiden bereits genannten Argumentationsketten zur Legitimation der Herrschaft des Königs als eine weitere die Einsetzung des assyrischen Königs in die Herrschaft über den ganzen Erdkreis verwendet, die durch die Übergabe des Szepters durch den Gott Aššur unterstrichen wird [30]. Das leitet über zu einem dem Krönungshymnus folgenden Gebet des Königs, einem tākultu ("Kultmahlzeit")-Gebet, in dem festgestellt wird, daß die fünf führenden Götter des Pantheon dem König ihre Fähigkeiten und Funktionen im Pantheon übertragen. Die Götter Anu und Illil (Enlil) geben als Urgötter Krone und Thron und damit die Herrschaft, der Gott Ninurta seine Waffe – ein besonders interessantes Motiv. Im Gedicht Bin Úar Dadmē, dem sog. "Anzû-Mythos" [31], stiehlt der Gott Anzû die Schicksalstafel und stört damit die Ordnung der göttlichen Welt wie der irdischen. Der Gott Ninurta besiegt als Chaoskämpfer den Gott Anzû und stellt damit die Ordnung wieder her [32]. Assurbanipal soll mit der Waffe Ninurtas ausgestattet zum Chaoskämpfer in der Völkerwelt werden und die Völker, die sich nicht der assyrischen Herrschaft freiwillig unterwerfen, mit Krieg überziehen wie auch innerhalb des assyrischen Volkes jede Rebellion als Ausdruck chaotischer Störung der Schöpfungsordnung unterdrücken, ja im Keim ersticken. Entsprechend endet das tākultu-Gebet mit den Worten:

"Lege die Waffe der Schlachten und Kriege in seine Hand, liefere ihm die Schwarzköpfigen (die Menschheit) aus, damit er als ihr Hirte über sie regiere!"

Diese Form der Staatideologie mußte, wenn die politischen Umstände sie beförderten [33], zu einer militärisch gestützten Expansionspolitik führen, deren Ziel im Westen die Unterwerfung Ägyptens war [34]. Dem liegt die Anschauung zugrunde, daß nicht Krieg und Frieden, sondern Krieg und Chaos Gegensätze seien [35], der Krieg also als creatio continua, als Wiederholung des Schöpfungsvorganges als Chaoskampf, zu verstehen sei: Für die Völker kann es ein der Schöpfung gemäßes Leben nur unter der Herrschaft des assyrischen Königs geben, da nur der assyrische Staat als Werkzeug der Götterwelt Frieden und Gerechtigkeit durchsetzen könne, andernfalls die Welt in Chaos und Zerstörung versinken müßte. Aber nicht nur mit der Macht der Waffen, sondern auch den Gaben der Regierungskunst wie Beredsamkeit, Verständnis, Treue und Gerechtigkeit soll der König von den Göttern ausgestattet worden sein, die das Fundament seiner Herrschaft über das assyrische Volk und alle Völker seien. Die vom König ausgehende Wohlfahrt soll sich in niedrigen und stabilen Preisen für Getreide, Öl und Wolle niederschlagen, d. h. in ökonomischer Stabilität [36] und sozialer Gerechtigkeit, die, sofern sie gestört war, durch einen königlichen Akt sozialer Restitution, einem (an)-durāru, wiederhergestellt werden konnte [37]. Aber die positive Wirkung des Königs auf die Gesellschaft soll noch weiter gehen und, die soziale Hierarchie überwindend, die gesamte Gesellschaft über alle Klassenunterschiede hinweg zu einer Diskursgemeinschaft zusammenfassen:

"Möge der Geringere sprechen und der Mächtigere zuhören! Möge der Mächtigere sprechen und der Geringere zuhören! Mögen Eintracht und Friede in Assyrien aufgerichtet werden!"

Dieses Paradigma einer Gesellschaft des herrschaftsüberwindenden Dialogs hat aber die Herrschaft des Königs zur conditio sine qua non und unterscheidet sich darin von jeder modernen Form des Modells einer Diskursgesellschaft [38]. Das assyrische Paradigma ist mit dem Paradox belastet, daß die Herrschaft des Königs Herrschaft überwinden, der hierarchische Abstand zwischen König und Staatsvolk Hierarchie in die Schranken weisen soll, ein Paradox, das neuassyrisch so gelöst wurde, daß der König als von den Göttern eingesetzter Mensch nicht als Teil der Diskursgemeinschaft galt und auch nicht als ihr Thema zur Disposition gestellt werden durfte: Jede Kritik am König und seinem Nachfolger wurde unnachsichtig verfolgt und mit dem sofortigen Vollzug der Todesstrafe geahndet. Kritik am König war Ausdruck des sich an der Ordnung der göttlichen Welt wie der Schöpfung vergehenden Chaos, das um jeden Preis im Zaum gehalten werden sollte. Der Loyalitätseid Asarhaddons, durch den er im Jahre 672 v. Chr. die Notabeln des assyrischen Reiches und der Vasallenvölker auf absolute Loyalität gegenüber seiner Person und der der von ihm designierten Nachfolger in Assyrien und Babylonien einschwor, belegt dieses Verbot der Kritik eindrücklich [39]:

"Wenn ihr ein übles, schlechtes, unpassendes Wort, das für Assurbanipal, den Kronprinzen des Nachfolgehauses, des Sohnes Asarhaddons, des Königs von Assyrien, euren Herrn, nicht angemessen, nicht gut ist, sei es aus dem Munde seines Feindes oder aus dem Munde seines Freundes, oder aus dem Munde seiner Brüder, seiner Onkel, seiner Vettern, oder seiner Familie, der Nachkommen seines Vaterhauses, oder aus dem Munde eurer Brüder, eurer Söhne, eurer Töchter oder aus dem Munde eines Propheten, eines Ekstatikers, eines Befragers des Gotteswortes, oder aus dem Munde eines jedweden Menschen, soviele es gibt, hört und verheimlicht, nicht zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, dem Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, kommt, es nicht anzeigt [40] –" (SAA II/6 § 10).

Die Pflicht, jede Form von Kritik am König und seinem designierten Nachfolger [41] anzuzeigen, wird in SAA II/6 § 12 zur Pflicht der Auslieferung von Hochverrätern an den Palast oder unmittelbarer Lynchjustiz gesteigert [42]:

"Wenn jemand euch von Aufstand, Rebellion, um Assurbanipal, den Kronprinzen des Nachfolgehauses, den Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, eures Herrn, der zu seinen Gunsten euch dem Loyalitätseid unterworfen hat, zu töten, umzubringen, zu beseitigen, berichtet und ihr es aus irgendjemandes Mund hört und die Anstifter von Rebellion nicht packt und nicht zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, bringt, wenn ihr, solltet ihr imstande sein, sie zu packen, sie zu töten, nicht packt, sie nicht tötet, ihren Namen und ihre Nachkommenschaft nicht aus dem Land vernichtet, solltet ihr nicht imstande sein, sie zu packen, sie zu töten, es Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, nicht anzeigt, ihn nicht unterstützt, um die Anstifter von Aufständen zu packen, zu töten, ihren Namen und ihre Nachkommenschaft aus dem Land zu vernichten –" (SAA II/6 § 12).

Der König als Verkörperung des göttlichen Auftrags, das Chaos in der Welt zurückzudrängen und in die Schranken zu weisen, war um jeden Preis vor Rebellion und Aufstand als Ausdruck schöpfungswidrigen Chaos zu schützen und der Hochverrat, so meinte man, beginne mit der Kritik, mit "üblem, unpassendem Wort, das für Assurbanipal, den Kronprinzen des Nachfolgehauses, den Sohn Asarhaddons, des Königs von Assyrien, nicht angemessen, nicht gut ist" (SAA II/6 § 10:108-111). Der Gedanke, der Einzelne könne an Übergriffen des Königs oder Kronprinzen und der durch sie repräsentierten Organe des Staates leiden, war diesem Denken fremd. Als Leidenszeiten galten vielmehr die königslosen Zeiten. Eine Ausdehnung des Toleranzgedankens auf den König und der Gedanke, der einzelne Bürger sei vor Übergriffen der Staatsmacht zu schützen, mußte dieser politischen Theologie fremd bleiben.

Die neuassyrische Staatsideologie verlangte noch konsequenter als die ägyptische Ma’at- Ideologie nach einer negativen Anthropologie als Folie für die positiven Funktionen der Staatsmacht. Vor gut zehn Jahren wurde ein Schöpfungsmythos der neubabylonischen Tafel VAT 17019 des Vorderasiatischen Museums zu Berlin bekannt [43], der zwischen der Schöpfung der Menschheit, des lullû-Menschen und des Königs unterscheidet. Ähnlich wie im Atra2asis-Mythos wird der lullû-Mensch geschaffen, da die Götter sich weigern, zu arbeiten, Flüsse und Kanäle zu graben und damit das Werk der Weltschöpfung zu vollenden, so daß die harte Arbeit Ziel menschlichen Lebens sei, um die Götter zu entlasten. Nach der Schöpfung des lullû-Menschen fährt der Mythos fort mit der Schöpfung des Königs durch die Göttin Bēlet-ili:

"Der Gott Ea begann zu sprechen,
er richtete sein Wort an Bēlet-ili:
'Bēlet-ili, du bist die Herrin der großen Götter.
Du hast den normalen Menschen (lullû-amēlu) geschaffen.
Schaffe nun den König, den überlegen-entscheidenden Menschen (māliku-amēlu).
Mit Schönheit umhülle seinen
ganzen Körper, forme seine Gestalt mit Harmonie, mache seinen Körper schön'.
So schuf Bēlet-ili den König, den überlegen-entscheidenden Menschen. Die großen Götter
gaben ihm die (Macht zum) Kampf."

Es folgt ein Abschnitt, der dem tākultu-Gebet Assurbanipals ähnelt. Die großen Götter begabten den König mit ihren Fähigkeiten und Funktionen, die in den jeweiligen Geschenken symbolisch zur Darstellung gebracht wurden: Die Götter Anu und Enlil gaben Krone und Thron, Nergal seine Waffe, Ninurta seinen Erschrecken wirkenden Lichtglanz und die Göttin Bēlet-ili ihre Schönheit. Wurde der König schöpfungstheologisch derart von der Menschheit abgehoben, so mußte jede Kritik an ihm zu einer Kritik am Schöpfungswerk der Götter werden, was ihr jede denkbare Legitimation rauben mußte, wie es auch keinen Schutz des lullû-Menschen vor dem König als "überlegen-entscheidendem" Geschöpf geben konnte. Schon gar nicht konnte es eine Berufung auf den göttlichen Willen geben, um die Macht des Staates in die Schranken zu weisen.

Der Gedanke der Begrenzung staatlicher Macht durch die Macht des einen Gottes, der absolute Loyalität fordere, war die Frucht der Traditionsgeschichte der Hebräischen Bibel, spezifischer der Auseinandersetzung judäischer Intellektueller mit dem Loyalitätsanspruch der assyrischen Hegemonialmacht, die in neubabylonischer, persischer und hellenistischer Zeit Schule machte. Wir wenden uns hier dem Ursprung dieser Idee im 7. Jh. v. Chr. zu. In Dtn 13,2-10* [44] und Dtn 28,20-44* [45] wurde der § 10 des Loyalitätseids Asarhaddons erweitert durch Elemente der §§ 12; 18; (29); 57 und der § 56 erweitert durch Elemente der §§ 38A-42; 63-64 (65) als Vorlage einer Übersetzung in das Hebräische genutzt, die als Loyalitätseid für JHWH Kernüberlieferung des Deuteronomiums wurde [46]:

"Wenn in deiner Mitte ein Ekstatiker oder ein Inkubant aufsteht, der zu dir spricht: Laßt uns hinter anderen Götter hergehen und ihnen dienen, so sollst du nicht auf ihn (die Worte des Ekstatikers oder Inkubanten) hören. Dieser Ekstatiker oder Inkubant soll getötet werden, denn er hat einem Hochverrat gegen JHWH das Wort geredet.

Wenn dich dein Bruder, der Sohn deines Vaters, oder der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn, oder deine Tochter, oder die Frau deines Herzens, oder dein Freund, den du liebst wie die selbst, heimlich verführt: Laßt uns gehen und anderen Göttern dienen, so sollst du ihm nicht folgen und nicht auf ihn hören. Du sollst dich nicht seiner erbarmen und es nicht verheimlichen. Vielmehr sollst du ihn töten" (Dtn 13,2-10* [47]).

Die wörtliche Rezeption des assyrischen Loyalitätseides hat subversiven Charakter: Sie entzieht mit der Übertragung der Loyalitätsforderung auf JHWH, den Gott Judas, dem assyrischen Großkönig und damit der neuassyrischen Hegemonialmacht die Legitimation ihrer Herrschaft und wendet damit ein Verfahren an, das auch in der Rezeption des "Bundesbuches" für die Autoren des Deuteronomiums charakteristisch ist [48]. Das Altargesetz des Bundesbuches in Ex 20,24-26 wird in den deuteronomischen Zentralisationsgesetzen in Dtn 12,13-27* zitiert und in seiner Intention auf den Kopf gestellt [49], bindet doch das Altargesetz des Bundesbuches die Legitimität der Vielzahl von Heiligtümern an eine dem Bundesbuch entsprechende Gesetzespromulgation [50], während das Deuteronomium im Gesetz verfügt, es gebe nur ein legitimes Heiligtum. In Dtn 13,2-10* wird ein zentraler neuassyrischer Text rezipiert, der wie kein anderer die Forderung absoluter Loyalität auch der Judäer gegenüber dem assyrischen Großkönig und seinem Nachfolger rechtlich mit einem Eid sichern will, um dem assyrischen Großkönig diese Loyalität durch die Übertragung der Loyalitätsforderung auf JHWH zu entziehen. Noch mit der Übertragung des Motivs der eidlichen Loyalitätsbindung auf das Verhältnis zur Gottheit bedient sich der judäische Kerntext des Deuteronomiums einer neuassyrischen Motivik des 7. Jh. v. Chr. [51]. In den prophetischen Orakeln SAA IX/3 [52], die bei der Thronbesteigung Asarhaddons rezitiert wurden [53], steht der "Bund" (adê) des Gottes Aššur mit dem König im Mittelpunkt, und in einer in phönizischer Sprache abgefaßten Beschwörung des 7. Jh. v. Chr. aus Arslan Taş [54], dem neuassyrischen Verwaltungszentrum 3adattu, wird ein "ewiger Bund" (ltlm) des Gottes Aššur mit seinem Verehrerkreis aufgerufen. Mit neuassyrischer Motivik wird in der Bundestheologie der Hebräischen Bibel gegen die neuassyrische Staatstheorie und ihren Hintergrund in einer politischen Theologie, die die Forderung absoluter Staatsloyalität begründet, durch eine subversive Rezeption, die zwei zentrale Motive der neuassyrischen Staatsideologie gegeneinander ausspielt, zu Felde gezogen [55]. Mit der Übertragung der Loyalitätsforderung vom assyrischen Großkönig auf JHWH wird nicht nur jenem die Loyalität entzogen, sondern auch dem Gott Aššur [56], weil der König nur sein xalmu ist. Nur auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, daß die judäischen Intellektuellen, die den Loyalitätseid Asarhaddons so subversiv rezipierten, die Loyalitätsforderung nicht auf den judäischen König, sondern den Gott Judas, JHWH, übertrugen. Unabhängig von der Frage, ob sich in den Königspsalmen der Hebräischen Bibel eine der mesopotamischen vergleichbare vorexilische Königsideologie niedergeschlagen hat oder sie, was in dieser pauschalen Form eher unwahrscheinlich ist, eine nachexilische messianische Theologie zum Ausdruck gebracht haben, hätte eine derartige, der assyrischen vergleichbare judäischen Königsideologie keinen Anhalt an der Realität. Auch unter dem König Josia konnte sich eine derartige Königsideologie nicht einmal im Ansatz einen Weltherrschaftsanspruch an die Fahnen heften – eine Übertragung des neuassyrischen Loyalitätseides auf den judäischen König mußte am Mangel an Plausibilität scheitern und war dem assyrischen Modell nicht über-, sondern unterlegen. Die judäischen Intellektuellen waren radikaler, wenn sie die Loyalitätsforderung als eine absolute, die um jeden Preis durchzusetzen sei, mit JHWH verbanden und damit jede Form absoluter Loyalitätseidsforderung einer staatlichen Macht in die Schranken wiesen: Nicht dem judäischen König als xælæm ("Repräsentant") eines Königsgottes JHWH komme die Loyalität zu, sondern JHWH direkt.

Eine kulturhistorische Bedeutung dieses in der Auseinandersetzung mit der so eindrucksvoll geschlossenen assyrischen politischen Theologie gewonnenen Gedankens einer Begrenzung der Gehorsamsforderung des Staates kann kaum überschätzt werden. Hier wurde ein Paradigma geboren, daß Gott mehr zu gehorchen sei als dem Menschen, das in der Apostelgeschichte (5,29) klassischen Ausdruck gefunden hat.

Mit dem Loyalitätseid in Dtn 13; 28* wurde noch vorexilisch das Programm einer Rechtsreform in Dtn 12,14-26*, die das Bundesbuch reformulierte, verbunden, wobei auch an assyrische Redaktionstechniken angeknüpft wurde und die Reformulierung also auf der Höhe der Zeit stand [57]. Im Gegensatz aber zu keilschriftlichen Rechtssatzsammlungen entwarf sie das Bild einer idealen Gemeinschaft des Volkes, die nicht durch theologisch legitimierte Institutionen des Staates integriert wurde, sondern sich um das Zentralheiligtum und den dort einwohnenden Gott scharte. Und noch mit der Einführung der sog. "Ämtergesetze" durch die deuteronomistische Hauptredaktion des Deuteronomiums in der Exilszeit in Dtn 16,18-18,22 [58] kehrte im Königsgesetz in Dtn 17,14-20 zwar das Motiv der Königsherrschaft in das Deuteronomium zurück, doch wurde der König aller Insignien triumphaler Macht entkleidet. Seine Herrschaft sei nur insoweit eine legitime, als er der Erste unter den Schriftgelehrten in seinem Volk sei, ein Vorbild an Frömmigkeit [59]:

"Wenn du in das Land, das JHWH, dein Gott dir gibt, kommst, es in Besitz nimmst, darin wohnst und dann sagst: Ich will einen König über mich einsetzen wie alle Völker um euch herum, dann darfst du einen König über dich setzen. Einen Ausländer darfst du nicht über dich setzen, weil er nicht dein Bruder ist. Er soll aber nicht zu viele Pferde halten, und er soll das Volk nicht nach Ägypten zurückführen, um die Zahl der Pferde zu vergrößern; denn JHWH sagte zu euch: Ihr sollt auf diesem Weg nie wieder zurückkehren. Er soll sich auch keine große Zahl von Frauen nehmen, damit sein Haus nicht abtrünnig wird. Er soll nicht viel Silber und Gold anhäufen. Und wenn er auf seinem Königsthron sitzt, dann soll er sich eine Abschrift dieses Gesetzes, das die levitischen Priester aufbewahren, in ein Buch schreiben. Und es soll bei ihm sein, und er soll alle Tage seines Lebens in ihm lesen, damit er lernt, JHWH, seinen Gott, zu fürchten, indem er auf alle Worte dieser Tora und dieser Gesetze achtet, sie hält und sein Herz sich nicht über seine Brüder erhebt und nicht von diesem Gebot nach rechts oder nach links abweicht, damit er lange als König über sein Reich herrscht, er und seine Söhne inmitten Israels" (Dtn 17,14-20).

Der Loyalitätseid in Dtn 13; 28* als "Urdeuteronomium" kann den Paradigmenwechsel in der Staatstheorie nur in der gewaltbesetzten Sprache der neuassyrischen Vorlage ausdrücken. Schon das deuteronomische Reformprogramm der spätvorexilischen Zeit pazifiziert Dtn 13*, wenn in Dtn 17,2-7* in Anknüpfung an Dtn 13,2ff. die Forderung der Lynchjustiz zugunsten eines geordneten Gerichtsverfahrens der Lokalgerichte aus den Angeln gehoben und Dtn 17,14-20 in deuteronomistisch-exilischer Theologie die Institution des Königs aller Züge der Gewalt entkleidet wird, während die Rechtsprechung in den Händen von Richtern und levitischen Priestern liegen soll (Dtn 16,18f.; 17,2-13) [60]. Die Einschränkung der Loyalitätsforderung des Staates durch eine Forderung absoluter Loyalität der Gottheit war eine notwendige Voraussetzung des modernen Gedankens der Grenze politischer Macht an den unveräußerlichen Menschenrechten des Individuums. Der Loyalitätseid des Urdeuteronomiums steht an der Wiege der modernen Demokratie, die nicht nur in Athen, sondern auch in Jerusalem steht. Demokratie beinhaltet nicht nur das Mehrheitsprinzip, sondern hat auch Grundwerte zur Voraussetzung, zu denen die Menschenrechte zu zählen sind. Mehrheitsentscheidungen, die die Grundrechte verletzen, verstoßen gegen den Gedanken der Demokratie. A. Barak hat in diesem Zusammenhang von Aspekten formaler und substantieller Demokratie gesprochen, die in Spannung zueinander stehen und die es im Gleichgewicht zu halten gelte. Dem diene das Prinzip der Verfassung:

"Es gab Demokratien, in denen die Ansicht vertreten wurde, daß dieses Gleichgewicht durch die Selbstbeschränkung der Mehrheit garantiert werden kann. In diesen Regimen gestattet die Struktur eben dieses Regimes der Mehrheit die formale Macht, Menschenrechte und Grundwerte zu verletzen, in der Praxis macht die Mehrheit von dieser Macht keinen Gebrauch. Sie beschränkt sich selbst. Infolgedessen besteht keine Notwendigkeit, die Macht der Mehrheit formal zu limitieren, da die Mehrheit Selbstbeschränkung und -kontrolle übt. Im 20. Jahrhundert zerbrach diese Auffassung. In vielen Regimen war die Mehrheit sehr wohl bereit, ihre volle Macht zu mißbrauchen, um Werte, Prinzipien und Menschenrechte, die ihr im Wege standen, zu verletzen ... Somit griff man die Idee der Verfassung auf" [61].

Ein kulturgeschichtlich tiefgreifender Transformationsprozeß hat die durch die Flüche sanktionsbewehrte, absolute religiöse Loyalitätsforderung als Grenze aller Forderung politischer Loyalität zu einer verfassungsrechtlichen Sicherung von Menschenrechten und Grundprinzipien der Demokratie, wie der Gewaltenteilung, umgeformt, die majoritäts- und suprematiekonsistent sind. Erst diese Grenzziehung, die sich der biblischen Tradition und ihrer Rezeption verdankt, läßt das Majoritätsprinzip formaler Demokratie griechischen Ursprungs zu sich selbst kommen. Die judäischen Intellektuellen haben in ihrer Auseinandersetzung mit der politischen Theologie der assyrischen Hegemonialmacht im 7. Jh. v. Chr. eine Idee geboren, die Geschichte gemacht hat, die die Geschichte der Überführung der Idee in Recht ist – ein Weg, der heute noch keineswegs zum Abschluß gekommen ist.

3. Die anthropologische Begründung: Der Mensch als Gottes Ebenbild

Mit dem Begriff der Menschenwürde im Sinne der dignitas wird in der Geschichte der Menschenrechte das bezeichnet, was alle Menschen gleichermaßen von der übrigen Schöpfung unterscheidet – ein Gedanke, der sowohl klassisch-philosophische Wurzeln, insbesondere in der Stoa [62], hat wie vor allem in der Schöpfungstheologie der Hebräischen Bibel mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der paulinisch zu dem der Aufhebung aller natürlichen Unterschiede unter den Menschen angesichts der gemeinsamen Gotteskindschaft (Gal 3,26-28) weitergeführt werden konnte.

Die politische Theologie des assyrischen Reiches war mit einer ihr adäquaten Anthropologie verbunden, die als schöpfungstheologische Ätiologie den Unterschied zwischen dem König als göttlich begabtem und zur Regierung eingesetzten, "überlegenentscheidenden Menschen" (māliku amēlu) und der übrigen Menschheit des lullû-amēlu begründet. Die Aufgabe des lullû-Menschen sollte es sein, stellvertretend für die unwilligen Götter durch die harte Kulturarbeit des Fluß- und Kanalbaus die Schöpfung zu vollenden. Im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Eliš konnte der negative Aspekt der Anthropologie noch durch den Gedanken gesteigert werden, daß der Mensch aus dem Blut des zu den Chaosgöttern gehörenden Gottes Kingu geschaffen, seine Materie also von Natur aus lebensvernichtend sei und nur die Form, die er durch den Gott Marduk erhalten habe, ihn leben lasse – es unabhängig also vom Mardukkult und dem ihn repräsentierenden König gar keine Lebenserfüllung gebe, während alle Not, die den Menschen treffe, nur als Folge des Chaos, das seine Natur sei, auf ihn komme [63]. Auch die ägyptische Anthropologie führte, wie der "Mythos von der Himmelskuh" als Ätiologie des Unvollkommenen in der Welt zeigt, alles Leiden auf die rebellische Natur des Menschen zurück [64].

Gegenüber derartiger negativer Anthropologie, die dem Menschen die Fähigkeit zum Guten aus sich heraus abspricht und ihn nur um so konsequenter auf den Staat als Ordnungsmacht angewiesen sein läßt, unterliegt die Anthropologie der Hebräischen Bibel, die in der Schöpfungstheologie entfaltet wird, einem Paradigmenwechsel, der dem Menschen ohne Differenzierung von māliku amēlu und lullû-amēlu königliche Züge zulegt, jeden Menschen zum Repräsentanten (xælæm; vgl. akk. xalmu) Gottes werden läßt und so die Anthropologie, die der politischen Theologie Mesopotamiens zugrunde liegt, zurückweist, indem sie sie demokratisiert und jeden Menschen zum König in der Welt Gottes macht. Dieser Paradigmenwechsel wird insbesondere in Ps 8 greifbar:

"Du legst deinen Glanz auf die Himmel. Im Munde der Kinder und Säuglinge hast du ein Bollwerk gebaut um deiner Feinde willen, um ein Ende zu bereiten dem Feind und dem Rächer. Wenn ich deine Himmel schaue, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du befestigst, was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und das Menschenkind, daß du dich seiner annimmst. Du machst ihn nur wenig geringer als himmlische Wesen, mit Ehre und Hoheit krönst du ihn. Du setzt ihn zum Herrscher über das Werk deiner Hände, alles legst du ihm zu Füßen: Schafe und Rinder zusammen und auch die Tiere des Feldes, Vögel des Himmels und Fische des Meeres, was die Wege der Wasser durchzieht" (Ps 8,2b-9).

Zunächst wird der Schöpfungsmacht Gottes die paradoxe Aussage vom Bollwerk gegen die Feinde im Munde der Kinder und Säuglinge entgegengestellt, die eine Motivik der ägyptischen Königsideologie aufnimmt [65], die im Kronprinzen als Säugling einen Herrscher über die Welt sah, dessen Herrschaft allein durch seine göttliche Natur bedingt sei, wie es in der Eulogie auf den König Ramses II. deutlich wird [66]:

"Alle Angelegenheiten kommen dir zu Ohren, seit du dieses Land verwaltest. Du hast Pläne gemacht als du noch im Ei warst, im Amt eines kronprinzlichen Kindes. Die Angelegenheiten der beiden Ufer wurden dir erzählt, als du noch ein Kind mit der Kinderlocke warst. Kein Bauwerk wurde errichtet, wenn nicht auf deinen Wink, keine Entscheidung gefällt ohne dein Wissen. Du warst 'oberster Mund' der Armee, als du ein Knabe von zehn Jahren warst. Jede Arbeit, die ausgeführt wurde – es war deine Hand, die das Fundament legte".

In Ps 8,3 wird dieses Motiv der ägyptischen Königsideologie zu einer paradoxen anthropologischen Aussage über das Leben des Menschen verallgemeinert: Empirisch schwach und hilflos gewinnt der Mensch seine, das Chaos, die "Feinde", zurückdrängende Kraft allein durch den Schöpfergott. Gott hat ihn so ausgestattet, daß er dem Bösen widerstehen kann. Das bringt die Fortsetzung des Psalms zum Ausdruck. Wird mit "Bollwerk" ein Begriff aufgenommen, der in der Jerusalemer Königsideologie die Unüberwindlichkeit der Macht des Königs ausdrückt, so wird dieses Motiv demokratisiert: Ein jeder Mensch ist ein König in der Welt, nur wenig geringer als die Wesen des himmlischen Hofstaates, was sich in der Herrschaft des Menschen über die Tierwelt als Mandatar Gottes ausdrückt [67]. Nicht also die Unterwerfung unter einen "überlegen- entscheidenden Menschen" läßt die Menschheit dem Chaos trotzen, d. h. der Ungerechtigkeit und Lebensvernichtung in der Welt, sondern die Ausstattung eines jeden Menschen als königliches Wesen von der Schöpfung an. Damit mußte dem Staat eine aller ontologischen Überhöhung entkleidete, rein funktionale Bedeutung zur Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in ihrem Dienste zukommen. Diese Wende in der Anthropologie ermöglichte erst die Einschränkung der staatlichen Loyalitätsforderung in der Hebräischen Bibel. Wird in der politischen Theologie Assyriens der König als "Repräsentant" (xalmu) des Königsgottes Aššur verherrlicht, so wird dem in Ps 8 deutlich gewordenen Gefälle entsprechend dieses Motiv im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht der Genesis in Gen 1,26 ebenfalls demokratisiert und damit die Menschheit insgesamt mit der Königsfunktion beauftragt:

"Laßt uns Menschen machen als unsere Repräsentanten [68], uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als seinen Repräsentanten, als Abbild schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.

Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen" (Gen 1,26-28).

Der Mensch nimmt als Repräsentant (xælæm) Gottes die Stellung ein, die in der Anthropologie der neuassyrischen Königsideologie dem König als xalmu des Gottes Aššur zukommt – nur wird sie nicht in der Herrschaft des Menschen über den Menschen, des māliku amēlu über den lullû-Menschen, sondern über die übrige Schöpfung, insbesondere Tierwelt konkret, wobei nach dem Verständnis der Priesterschrift nicht der Gewaltaspekt der Herrschaft im Vordergrund steht, sondern die Fürsorge eines königlichen Hirten für die Natur [69]. Hat dieses Motiv der Gottebenbildlichkeit in der Auslegungsgeschichte der Hebräischen Bibel den egalisierenden Aspekt im antiken Gedanken der Menschenwürde befördert [70], auch wenn die Erbsündenlehre bis zur Aufklärung die emanzipatorische Durchschlagskraft des Gedankens der Gottebenbildlichkeit abmilderte, so konnte es doch mit dem Gedanken der Begrenzung der Loyalitätsforderung des Staates in der niederländischen und englischen Staatstheorie des 16. und 17. Jh. n. Chr. zusammengeführt werden und so sich als Element der politischen Theologie für die Menschenrechtsfrage im modernen Sinne voll entfalten.

Noch ein weiterer durch die Erbsündenlehre in seiner emanzipatorischen Zielrichtung verdunkelter Schöpfungstext der Hebräischen Bibel, die Gen 1 ergänzende Paradieserzählung Gen 2-3, ist hier anzuführen [71]. Die nachexilische Weisheit führte einen intensiven Dialog über die Quellen und Grenzen des menschlichen Wissens um Gut und Böse. Im Qoheletbuch wird jede offenbarungstheologische Begründung des Wissens um Gut und Böse abgelehnt. In Qoh 8,5 wird die zurückgewiesene Position, gegen die argumentiert wird, so charakterisiert:

"Wer auf das Gebot achtet, lernt keine schlimmen Sachen kennen, da der Verstand des Weisen Zeitpunkt und Ordnung kennt".

Mit Qoh 8,6f. folgt die im Qoheletbuch vertretene Gegenposition [72]:

"Allerdings – für alles Tun gibt es Zeitpunkt und Ordnung – und das Übel des Menschen lastet schwer auf ihm. Denn er weiß nicht, was sein wird; fürwahr – was sein wird – wer könnte ihm das kundtun?"

Die von Qohelet infrage gestellte Position wird dagegen nachdrücklich im Buch Ben Sira vertreten [73]:

"Er (sc. Gott) bildet ihnen Mund und Zunge, Auge und Ohr, und ein Herz zum Denken gab er ihnen, mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie Gutes und Böses zu erkennen" (Sir 17,5f.).

Die Fortsetzung in Sir 17,12 zeigt, daß der schöpfungstheologisch fundierte Optimismus des Siraciden offenbarungstheologisch begründet ist. In diesem Diskurs der judäisch-jüdischen Weisheit [74] greift die weisheitlich geprägte Lehrerzählung [75] Gen 2-3 mit einer eigenständigen Position ein. Wird auf der einen Seite die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis des vor Gott Guten und Bösen schöpfungstheologisch begründet und diese Position offenbarungstheologisch abgesichert, auf der anderen Seite dem Menschen derartige Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen abgesprochen, so führt Gen 2-3 das Wissen um Gut und Böse auf die Rebellion des Menschen gegen das Gebot Gottes zurück. Wird im Hiobbuch dem Menschen in Hi 31 die Fähigkeit zu moralischem Urteil, unabhängig von einer Gottesoffenbarung, zuerkannt, nicht aber das Wissen um die prinzipielle Überwindung und Beherrschung des Bösen durch Gott (Hi 38-41), so hat in Gen 2 der Mensch die mit der Schöpfung begründete Fähigkeit des Verstandes zu pragmatischer Ordnung seiner Lebenswelt erhalten, wie die Benennung der Tiere, die eine Nähe zu weisheitlicher Onomastik hat, sowie die Benennung der Frau als Partnerin des Mannes zeigen. Das moralische Urteil über Gut und Böse dagegen soll allein Gott vorbehalten bleiben [76]. Dieser Gedanke hat seinen traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt in dem Motiv in Hi 15,17, der Mensch habe, im Rat Gottes lauschend, die Weisheit an sich gerissen. Im Gegensatz aber zur traditionsgeschichtlichen Vorgabe, die am Strafaspekt orientiert ist [77], ist die Paradieserzählung in Gen 2-3 ein Traktat über die Freiheit Gottes und des Menschen. Gott räumt dem Menschen die Freiheit der Entscheidung ein, dem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, zu folgen oder es, wohl wissend um die Folgen, zu übertreten. Das setzt voraus, daß Gott in seiner Allmacht sich zurücknimmt, wenn dem Menschen Freiheit zugemessen wird. Freiheit ist aber nur dort gegeben, wo der Mensch auch an der Freiheit scheitern kann [78] – und er scheitert. Erst das Motiv des Scheiterns bringt den Vollzug der Freiheit in vollgültigem Sinne zum Ausdruck und läßt das urzeitliche Geschehen zur Auslegung der conditio humana werden. Aus dem Scheitern am Gottesgebot leitet der weisheitlich gebildete Autor von Gen 3 das Wissen des Menschen um Gut und Böse ab. Die Freiheit, die dem Menschen von Gott zugestanden ist und die er im Übertreten des Gottesgebots ergreift, muß er, am Gotteswillen scheiternd, mit der Reduktion der paradiesischen Schöpfungsintention Gottes für die Welt [79] bezahlen. Die Paradieserzählung Gen 2-3 hat darin Anteil an der Bearbeitung der Erfahrung des Unvollkommenen in der Welt, die für ägyptische wie mesopotamische Erzählungen, des "Mythos von der Himmelskuh", des Enuma eliš oder der "Schöpfung des Königs und des lullû-Menschen" gleichermaßen charakteristisch ist. Von derartigen Erzählungen unterscheidet sich Gen 2-3 nun aber grundlegend, wenn nicht in der defektiven Natur des Menschen, sondern in der ihm zugestandenen Freiheit, die einen Preis hat, die Unvollkommenheit des menschlichen Lebens begründet wird und einer Differenzierung zwischen einem vollkommenen, königlichen Menschen und der übrigen Menschheit kein Raum gegeben wird: Freiheit ist urzeitlich allen Menschen von Gott zugesprochen worden [80]. Der Mensch mußte die Freiheit ergreifen, und er zahlt dafür mit den Flüchen unvollkommener Existenz. Die schöpfungsmäßige Einbindung in die äußere Natur ging verloren, ein Graben zwischen Mensch und Tierwelt tut sich auf und das herrschaftsfreie Miteinander der Geschlechter kann durch Herrschaft verstellt werden. Der Mensch muß die Freiheit ergreifen, aber er muß dafür mit Glückseligkeit zahlen. Die Freiheit ist allen Menschen gleichermaßen gegeben, und alle tragen ohne sozialen Unterschied die Folgen.

Die Anthropologie der Hebräischen Bibel stellt die Aspekte der Freiheit und der Gleichheit des Menschen in den Mittelpunkt. Wenn die Menschheit in ihrer Geschichte immer wieder vor der Frage stand und steht, ob nur vom Staat vernünftiges, sittliches und rechtmäßiges Leben durchgesetzt werden kann, ihm also als umfassender Organisationsform die individuellen Wünsche, Projektionen und Sehnsüchte unterzuordnen, ja zu opfern seien, so legt die mesopotamische und ägyptische Anthropologie den Grund, um diese Frage in der Staatstheorie als politische Theologie mit einem eindeutigen Ja zu beantworten, die Anthropologie der Hebräischen Bibel dagegen mit einem Nein. Sie hat in den Menschenrechten der Moderne, die als Abwehrrechte das Individuum schützen, Geschichte gemacht.

4. Die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1966 neben dem Pakt der Menschenrechte in Gestalt der individuellen Freiheitsrechte auch einen solchen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Zu ihnen gehören die Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit, angemessenen Lebensstandard und Schulbildung. Sie stehen in einer langen Tradition der Sozialprogramme, die eine wichtige Wurzel in der Hebräischen Bibel und wiederum im Buch Deuteronomium haben [81]. Die anthropologische Verortung der Arbeit in der Hebräischen Bibel [82] unterscheidet sich von der in mesopotamischen Überlieferungen wie der des Schöpfungsmythos von māliku-amēlu und lullû-amēlu. Wird dort der Mensch mit dem Ziel der Arbeit geschaffen, macht also erst die Arbeit in Stellvertretung der Götter als Vollendung der Schöpfung den Menschen zum Menschen [83], so gehört für die Hebräische Bibel die Arbeit zum Menschen, im Paradiesgarten (Gen 2,15), in der jetzigen (Ps 104,23 u.ö.) wie in der zukünftigen Welt (Jes 2,4; 11,6; 65,21f.). Ist die Arbeit anthropologisch nicht in eine hierarchische Ordnung eingebunden, in der der König als "Repräsentant" des Königsgottes Nutznießer der Arbeit ist, wird in der Hebräischen Bibel Raum geschaffen, um die Arbeit mit dem Aspekt der Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen, wie es vornehmlich in der prophetischen Sozialkritik einerseits, den Sozialgeboten der Rechtskorpora andererseits geschieht [84]. Bereits im vordeuteronomischen Bundesbuch (Ex 20,24-23,12*) [85] werden die sozialen Differenzierungsprozesse und daraus resultierende Konflikte zum Anlaß einer theologisch gelenkten Ausdifferenzierung eines sozialen Ethos aus dem Recht [86]. Angesichts der zunehmenden sozialen Heterogenität der judäischen Gesellschaft in der Königszeit konnten gentile Bindungen immer weniger Begründungszusammenhang eines die sozialen Störungen und Zerstörungen dieser Gesellschaft begrenzenden sozialen Reformprogramms sein, dem die Einschränkung der Versklavung auf sieben Jahre (Ex 21,2-6) und der Schutz weiblicher Sklaven (Ex 21,7-11) ebenso zuzurechnen sind wie die Begrenzung des Pfandrechts (Ex 22,20-26*) und die Armenspeisung durch den Wildwuchs im Erlaßjahr (Ex 23,10f.). Die Auflösung der gentile Solidarbeziehungen sichernden Bauernfamilien in der neuassyrischen Krise Judas im 8. und 7. Jh. v. Chr. förderte noch diesen Prozeß [87]. In Erwartung eines Angriffs des assyrischen Königs Sanherib ließ Hiskia die dörfliche Bevölkerung Judas in die befestigten Städte umsiedeln, um, mit einer Taktik des Einigelns eine offene Feldschlacht vermeidend, die Assyrer zu langwierigen Belagerungen zu zwingen, ohne ihnen die Bevölkerung preiszugeben. Nachdem Juda von den Assyrern dennoch bis auf Jerusalem überrannt wurde und tausende Judäer in die Deportation gingen [88], wurde unter Manasse das Land von Jerusalem aus neu besiedelt. Die Folge war, daß die gewachsenen Familienbande der bäuerlichen Familien wie der sie stützende Ahnenkult mit den Gräbern zerstört waren und ein ethisches Vakuum entstand. Die Antwort war das Programm geschwisterlichen Ethos im Deuteronomium, das die Solidarität mit jedem Judäer und jeder Judäerin [89] fordert, wenn Darlehen ohne Zins gegeben (Dtn 13,20f.) und im Erlaßjahr erlassen (Dtn 15,1-10*), das Pfandrecht eingeschränkt (Dtn 24,5f.10-13), entlaufene Sklaven geschützt (Dtn 23,16f.) und in jedem dritten Jahr der Zehnte an die Armen abgeführt werden soll. Einem zerbrechenden gentilen Ethos setzt das deuteronomische Reformprogramm als Reformulierung des Bundesbuches ein geschwisterliches Solidarethos entgegen, für das jeder Judäer und jede Judäerin Bruder und Schwester sind. Ihnen gilt die uneingeschränkte Solidarität des jeweils Stärkeren [90]. So, wie gemeinsam am Zentralheiligtum ohne soziale Unterschiede im Angesicht Gottes die Mahlgemeinschaft gefeiert und ein geschwisterliches Israel kultisch konstituiert wird [91], soll "Israel" sich auch draußen in den Wohnorten im Alltag als Gemeinschaft geschwisterlicher Solidarität bewähren und in der Achtung des Rechts die Reinheit von Land und Volk bewahren [92]. Die judäischen Intellektuellen, die dieses soziale Reformprogramm verfaßten, waren der Meinung, daß es den staatlichen Restitutionsmaßnahmen der Assyrer durch königliche Edikte des (an-)durāru überlegen war, konnten doch derartige Edikte durch entsprechende Klauseln in Privatverträgen für nicht effektiv erklärt werden [93]. Das deuteronomische Programm des sozialen Ethos sollte neben das Recht treten, war also nicht sanktionsbewehrt, sondern bediente sich der Paränese [94] und setzte auf die moralische Vernunft der Adressaten. Tatsächlich ist aber erst für die Jahre 164/3 oder 163/2 v. Chr. das erste Erlaßjahr belegt (1 Makk 6,49; Josephus Antiquitates XII 378). Die Vertragsurkunden der Murašu- und Elephantine-Dokumente, jüdische Verträge des 3. bis 1. Jh. v. Chr. aus der Diaspora und aus Palästina [95] sowie nicht zuletzt des Neuen Testaments [96] zeigen, daß noch bis nach der Zeitenwende auch konsumptive Darlehen nur gegen Zinsen gegeben wurden. Die von Rabbi Hillel eingeführte Institution des Prosbul, die muslimische Institution der išqā, des "geteilten Geschäfts" [97], und die christliche Tradition der Spiritualisierung der Sozialgebote [98] haben es zu einem weiten Weg werden lassen, bis die biblischen Sozialnormen als Impulse für eine justitiable Sozialgesetzgebung wirksam und Recht und soziale Gerechtigkeit zusammengeführt werden konnten. Erst in der Moderne kommt dieser Prozeß kraftvoll in Gang. Waren im Alten Orient Recht und Gerechtigkeit nur widersprüchlich in der Form zu vermitteln, daß entweder die Gerechtigkeitsakte gültige Verträge aushebelten, so in dem altbabylonischen Königreich der Hammurapi-Dynastie, oder wie in Kleinasien, Syrien und im Neuassyrischen Reich das Vertragsrecht die Gerechtigkeitsakte unwirksam machte, so trat in Juda das Sozialethos als nicht justitiabel und sanktionsbewehrt neben das Recht, um erst in der Moderne Teil des Rechts selbst zu werden. Der zweite Pakt der Menschenrechte der Vereinten Nationen, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, ist ein Schritt auf diesem Wege einer Verrechtlichung des Sozialethos. Im Gegensatz zum Pakt der Menschenrechte als individuelle Freiheitsrechte sind die Rechtsformulierungen des zweiten Paktes in der Regel noch keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich. Während für die individuellen Freiheitsrechte im Rahmen der Vereinten Nationen ein Beschwerdeverfahren vorgesehen ist, soll für den zweiten Pakt nur ein Berichtsverfahren eingerichtet werden. Und tatsächlich sind wir noch weit davon entfernt, weltweit auch nur die Bewahrung vor dem Hungertod zu einem einklagbaren Recht machen zu können [99]. Mit der Verankerung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte im Strom der Menschenrechtsdeklaration ist aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg ihrer rechtlich verbindlichen Fassung geleistet. Das gilt auch für die Verankerung der nationalen Verfassungen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird das traditionell in der modernen Menschenrechts- und Verfassungsgeschichte fest verankerte Recht auf Eigentum mit einer Klausel sozialer Verpflichtung versehen:

"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (GG Art. 14, Abs. 2).

Einer rechtlichen Umsetzung dieses Grundrechts in Leistungsrechte sind durch das Haushaltsrecht des Parlaments Grenzen gesetzt, wie die Auslegung dieses Verfassungsartikels in Gesetzesvorhaben dem Parteienstreit unterliegt. Doch legt die Verfassung mit diesem Artikel einen weiten Rahmen aus für die zunehmende gesetzgeberisch zu vollziehende Einwohnung der sozialen Gerechtigkeit in das Recht. Sehr viel weiter noch ist der Horizont, wenn es um das Ziel der Rechtspositivierung der sozialen Gerechtigkeit in einem Völkerrecht geht [100]. Doch das Ziel ist bereits sichtbar: "Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben" [101].

5. Konfliktregelungsmechanismen als Voraussetzung der Wahrung von Menschenrechten

Die Zukunft der Menschenrechte nicht als Idee, sondern als Rechtstitel, hängt davon ab, wie es gelingt, national und international gewaltfreie, Minderheiten Schutz gewährende Konfliktregelungsmechanismen durchzusetzen. Menschenrechte sind immer die Rechte der anderen in Interessens- und Rechtskonflikten. In den verfassungsgestützten und –geschützten Demokratien ist man auf diesem Weg schon weit vorangeschritten. Es gilt auf ihm international weiter voranzukommen und ihn in immer mehr Ländern zur Geltung zu bringen, aber auch zunehmend im Umgang der Völker miteinander den Menschenrechten völkerrechtliche Geltung zu verschaffen und in diesem Sinne die Institutionen der Vereinten Nationen einschließlich internationaler Gerichtshöfe, die über die Einhaltung der Menschenrechte wachen, weiter zu entwickeln. Wir stehen mit diesem Bemühen in einer langen Entwicklungsgeschichte, die ebenfalls bis in die Antike zurückzuverfolgen ist und die auch ihre biblischen Wurzeln hat. Wieder wurden in der assyrischen Krise des 8. und 7. Jh. v. Chr. kulturhistorisch entscheidende Durchbrüche zu neuen Modellen der Konfliktregelung erzielt, die sich zunächst als hochspekulative Theologumena formulierten, in ihrer Rezeptionsgeschichte für die Formulierung der Literatur der Hebräischen Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte aber kaum überschätzt werden können.

In der offiziellen politischen Theologie des neuassyrischen Reiches galt der König als "Herr des Weltganzen" (šar kiššati), "Herr (aller) Länder (šar mātāte) und "Herr der Könige" (šar šarrāni) [102]. Der universale Herrschaftsanspruch leitete sich aus der Funktion des assyrischen Königs als Repräsentant (xalmu) des Königsgottes Aššur, des Herrn der Götter, ab: Dem assyrischen König sollen die Völker unterworfen sein wie dem Königsgott die Götter des Pantheon. Und wie dem Gott Aššur im ausgehenden 3. und 2. Jt. v. Chr. Züge eines Kriegsgottes zuwuchsen [103], so nahm auch die Königsideologie zunehmend kriegerische Züge an. Als Repräsentant und Priester des Gottes Aššur wurde der König zur "Streitkeule der großen Götter" (kašuš ilānī rabûtī). Die Überlegenheit des assyrischen Königs über die Herrscher anderer Völker sollte sich auch in seiner Physis zeigen, galt er doch als derjenige, "der mit der Gewalt seines Mutes die Herrscher, alle Könige, unterwirft" und "der mit seiner gewaltigen Macht den Weltkreis beherrscht" [104]. Er sollte "ohne seinesgleichen" an Tapferkeit und Mut im Kampf sein. Diese Begabungen machten den Großkönig auch zu einem hervorragenden Jäger, der die wilden Tiere jagte wie die Feinde [105]. In den Königsinschriften und den Reliefs assyrischer Paläste stehen die Darstellungen der Jagdabenteuer neben denen der Feldzüge [106]: Der König sollte in seiner Macht die Feinde wie die Tiere töten und so die Chaosmächte, die die Schöpfung bedrohen, bezwingen. Diese triumphale Gotteskonzeption ließ keinerlei politische Legitimität jenseits der Herrschaftsgrenze des assyrischen Königs zu, Rechte also konnte es nur im Machtbereich Assyriens für den Bürger des assyrischen Reiches oder den Vasall geben.

Im Horizont dieser assyrischen Konzeption politischer Theologie bricht sich in Israel kurz vor dem Untergang im Sturm der Assyrer 722/20 v. Chr. ein neues Paradigma in der Theologie des Propheten Hosea Bahn [107]. Sie wurde wie die politische Situation in der Endphase der assyrischen Krise des Nordreichs Israel immer dunkler. Teile des Landes waren bereits durch Tiglat-Pileser III. okkupiert, hohe Tributlasten und Militärausgaben zerrütteten die Wirtschaft des Reststaates auf dem Vorfeldglacis der beiden Großmächte Ägypten und Assyrien. Die politische Ordnung wurde durch Legitimationskrisen der Staatsführung erschüttert, Staatsstreich folgte auf Staatsstreich. Die Theologie Hoseas wandelte sich in dieser ausweglos erscheinenden Situation zu einer Unheilsankündigung. Der Hoffnungshorizont einer möglichen Alternative durch eine "Umkehr" Israels war zerbrochen, die Not der Gegenwart als Folge eines tief verwurzelten Versagens der Staatsführung wie aller Schichten des Volkes erkannt, das auf die Schläge, die Gott ihnen zufügte, um sie zur Umkehr zu bewegen, nicht reagierte. In Hos 12,1-15 werden alle Lebensbereiche Israels, die Ökonomie, die Innen- wie die Außenpolitik und das religiöse Leben als korrupt gegeißelt. Israel war für den Propheten zum Feind seines Gottes geworden – ein Gedanke, der die für den gesamten Alten Orient selbstverständliche Symbiose zwischen Gott und seinem Volk zerbrach. Der Prophet deutete in der Konsequenz die gesamte Geschichte des Volkes mit seinem Gott als Unheilsgeschichte:

"Einen Rechtsstreit [108] hat JHWH mit 'Israel', um Jakob zur Rechenschaft zu ziehen, seinen Wegen gemäß und gemäß seinen Taten ihm heimzuzahlen. Im Mutterleib hinterging er seinen Bruder und in seiner Kraft kämpfte er gegen Gott" (Hos 12,3f.).

Der Ursprung Israels in der Jakobsgeschichte [109] wird als Betrugsgeschichte gedeutet: Schon von den allerersten Anfängen im Mutterleib an soll Betrug die Signatur des Lebens Israels gewesen sein [110]. Diese negative Geschichtstheologie will die Unfähigkeit Israels, umzukehren, begründen. Die Tiefe der Entfremdung und des sie provozierenden falschen Verhaltens in der Gegenwart des Propheten wird ihm zur Signatur der Geschichte insgesamt: Israel ist, was es geworden ist.

Auf diesem Hintergrund gewinnt der der Spätphase der Wirksamkeit des Propheten Hosea zuzuschreibende Text in Hos 11,1-9 [111] seine bahnbrechende Bedeutung:

"Als Israel ein Knabe war, gewann ich ihn lieb, aus Ägypten rief ich meinen Sohn. Wie 'ich' [112] rief, so gingen sie von 'meinem' Angesicht. Den Ba’alim opferten sie und den Schnitzbildern räucherten sie. Ich lehrte Ephraim laufen, 'ich' nahm sie auf 'meine' Arme. Aber sie erkannten nicht, daß ich sie liebte. Mit Seilen von Menschen zog ich sie, mit Stricken der Liebe, und ich war für sie wie diejenigen, die ein 'kleines Kind' an ihre Wangen heben und 'ich neigte mich ihnen zu und gab ihnen zu essen'. Er kehrt zurück ins Land Ägypten und Aššur wird sein König sein [113]. Es tanzt ein Schwert in seinen Städten und tötet 'seine' Söhne. Aber mein Volk hält fest an seiner Abkehr von mir und zum 'Alijaan [114] rufen sie' <er (aber) hilft ihnen ganz und gar nicht>. Wie soll ich dich hingeben, Ephraim, wie soll ich dich ausliefern Israel; wie soll ich dich hingeben wie Adma [115], wie soll ich dich zurichten wie Zeboim. Es kehrt sich gegen mich mein Herz. Mit Macht entbrennt mein Mitleiden (ni/hûmāj). Ich werde die Glut meines Zorns nicht vollstrecken, ich werde mich nicht hinwenden, um Ephraim zu verderben, denn Gott bin ich und nicht ein Mensch, in deiner Mitte ein Heiliger. Ich werde nicht kommen, um zu verbrennen" (Hos 11,1-9).

Der erste Redeabschnitt begründet das angekündigte Scheitern der Geschichte Israels. Der mit den Motiven der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gezeichneten Liebe Gottes zu seinem Volk wird dessen Abkehr entgegengesetzt. Die Folge der Abkehr werden Deportation und Vernichtung des Volkes sein. Der Exodus aus Ägypten wird umgekehrt zur Deportation nach Assyrien. Die Dialektik subversiver Textrezeption assyrischer Königsorakel steht nicht hinter der der judäischen Intellektuellen zurück, die einhundert Jahre später den Loyalitätseid Asarhaddons rezipieren. Wie der assyrische König in den prophetischen Orakeln als Sohn der Ištar von Arbela bezeichnet werden kann [116], dem die Liebe der Gottheit gilt, die den König wie eine Amme nährt [117], die ihn auf den Armen trägt [118] und großzieht [119], so wird hier das Verhältnis JHWHs zu Israel wie das zwischen der Gottheit und ihrem König geschildert. Nur der geliebte "König" weigert sich, die Liebe seiner Gottheit anzunehmen. Der Unfähigkeit zur Umkehr, der Alternativlosigkeit des Handelns, entspricht die Unausweichlichkeit des kommenden Unheils.

Mit einem adversativen Neueinsatz läßt der zweite Redeabschnitt in das Herz Gottes schauen. Das Herz, der innerste Wesenskern Gottes, wendet sich gegen Gott: Im Herzen Gottes toben Zorn und Liebe gegeneinander. Zorn ist die Reaktion Gottes auf die Entfremdung des Volkes von der Liebe Gottes. Aus diesem Kampf im Herzen Gottes, der dialektischen Spannung von Zorn und Liebe, folgen die ni/humîm Gottes. So wie n/hm das Empfinden von Leid im Sinne des Mitleidens [120] bezeichnen kann, so bezeichnen die ni/humîm JHWHs die Identifikation Gottes mit dem kommenden Unheil Israels [121]. In diesem schmerzvollen Aspekt der ni/humîm gründet Gottes Überwindung des Zorns durch Mitleiden. Arbeitet Gott im Mitleiden die Abkehr des Menschen durch, eröffnet er dem Menschen eine neue Zukunft:

"Ich werde nicht ausführen die Glut meines Zorns, ich werde mich nicht hinwenden, um Ephraim zu verderben, denn Gott bin ich und nicht ein Mensch."

F.-L. Hoßfeld hat zu Recht geschrieben, "gerade darin besteht der Abstand Gottes zum Menschen, seine Heiligkeit, daß er die Treulosen verschont und in der Liebe leidend bei seinem Volk, 'in deiner Mitte' bleibt" [122]. Der Text des Hoseabuches weiß darum, daß diese Selbstüberwindung, die dem Anderen Zukunft eröffnet, dem Menschen nicht von Natur gegeben ist. Indem Gott auf die Gewalt des Menschen nicht mit der Gegenwart des Zorns reagiert, sondern in der mitleidenden Selbstüberwindung als Überwindung des eigenen Zorns auch die Abkehr des Menschen überwindet, ist die Dialektik von Gewalt und Gegengewalt im Verhältnis des Menschen zu Gott aufgehoben. Der Mensch ist nicht mehr Werkzeug und Mittel des Erweises triumphaler Macht und Überlegenheit Gottes noch dort, wo der Mensch sich von ihm abkehrt, sondern Gott erniedrigt sich in der Identifikation mit der Schwachheit des Menschen und eröffnet so dem Menschen Zukunft [123].

Hier wird ein Handlungsmodell gezeichnet, das Vorbild für den Umgang des Menschen mit dem Menschen sein kann: In der Selbstüberwindung liegt der Schlüssel zur Aufhebung der Dialektik von Gewalt und Gegengewalt [124]. Die Fähigkeit zur Selbstüberwindung ist kaum ausreichend mit der Aufklärung dadurch begründet, daß der Andere als Vernunftwesen nicht Mittel zu eigenen Zwecken sein solle. In Hos 11,1-9* geht Gottes Liebe aller Abkehr des Menschen voraus. Sie ist der Begründungszusammenhang für den adversativen Neueinsatz. Der in der Liebe gründende Verzicht auf Selbstdurchsetzung ist aber nicht wider das eigene wohlverstandene Interesse. Hos 11,1-9* begründet in der theologischen Spekulation auf den Gottesbegriff, daß die Verwirklichung des Selbst im Anderen, die den anderen Menschen nicht zum Mittel der eigenen Zwecke macht, die wahre Verwirklichung des Selbst ist: Wäre Zorn die letzte Dimension des Gotteshandelns, so würde Gott nur auf die Abkehr reagieren und wäre darin in seinem Handeln durch den Menschen bestimmt, also nicht frei. Überwindet Gott sich selbst und gibt so dem Menschen die Freiheit zu gutem Handeln wieder zurück, erweist er sich selbst als frei. Hos 11,1-9* ist in diesem Sinne ähnlich wie Gen 2- 3 ein emanzipatorischer Text, der Modell sein kann für den Umgang des Menschen mit dem Menschen und seine Freiheit dadurch begründet, daß er sich selbst überwindet. Ein verwandter Geist spricht aus dem Gebot zur Feindes- und Bruderliebe, die auch den "Fremden" einschließt im Bundesbuch (Ex 23,4f.), Deuteronomium (Dtn 22,1-4) und Heiligkeitsgesetz (Lev 19,17f.34) [125], während der spekulative Gottesgedanke Hoseas seine Wirkungsgeschichte in den Konfessionen des Jeremiabuches [126] und den Gottesknechtsliedern des Jesajabuches [127] hat, in denen man des Leidens Gottes in dem des Propheten bzw. Gottesknechts ansichtig werden soll. Christologie und Ethik des Neuen Testaments fassen schließlich beide Aspekte zusammen.

Ob dieses Modell der Konfliktbewältigung zunehmend in die Substanz des nationalen und internationalen Rechts eingeht, entscheidet über die Realisierungschancen der Menschenrechte in der Zukunft. Ohne eine zunehmende Überführung des Geistes der Bergpredigt [128] in das Recht sieht es dunkel aus für die Menschenrechte in der Zukunft. Es gibt aber Ansätze, die zeigen, daß dieser Gedanke keineswegs weltfremd ist, Ansätze, für die die "Truth and Reconciliation- Committees" in Südafrika ein eindrückliches Beispiel sind. Erstmals in der Geschichte ist auf diese Weise versöhnlich Unrecht in der Geschichte aufgearbeitet worden [129]. Dieser Weg ist weiter zu beschreiten.

Mit der Menschenrechtsidee und ihrer rechtlichen Realisierung sind biblische Impulse in die ethische und rechtliche Substanz moderner Gesellschaften eingegangen, die als solche kaum noch erkannt werden. Die biblischen Ursprünge sollten um der Zukunftschance der Menschenrechte willen erinnert werden. Die Kirchen, um deren ureigenstes Erbe es geht, sollten im dritten Jahrtausend ihrer Geschichte mit an der Spitze derer stehen, die sich für eine weltweite rechtliche Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen.

Fußnoten:

[1] Dem hier vorgelegten Beitrag liegt auch das Manuskript einer Gastvorlesung zu den "Menschenrechten im Alten Testament" zugrunde, die ich am 3. Februar 1999 an der Universität Osnabrück gehalten habe. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen sowie der Studentenschaft für eine lebhafte Diskussion der Thesen dieses Manuskripts wie für eine herzliche Aufnahme an der Stätte, an der ich fünf wichtige Jahre meines akademischen Lebens verbracht habe. So ist es mir eine Freude, diesen Beitrag den Lehrenden und Lernenden des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück zu widmen.

[2] Diesen Aspekt hat Max Weber in seiner "Wirtschaftsethik des antiken Judentums" (Religionssoziologie III, Tübingen, 3. Aufl. 1976) nachdrücklich herausgearbeitet; s. auch B.N. Nelson, The Idea of Usury. From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, Chicago, 2. Aufl. 1969; ders., Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt/Main 1977 (Taschenbuchausg. 1986); E. Otto, "Um Gerechtigkeit im Land sichtbar werden zu lassen ..." Zur Vermittlung von Recht und Gerechtigkeit im Alten Orient, in der Hebräischen Bibel und in der Moderne, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit, Gütersloh 1998, 107-145. Eine erste kritische Ausgabe von Max Webers Wirtschaftsethik des antiken Judentums wird in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe vom Autor erarbeitet.

[3] Vgl. R. Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity (1592-1600), 2 Bde, eingeleitet von C. Morris, London/New York 1907 (Nachdruck 1969).

[4] Vgl. dazu W. Fikentscher, Die heutige Bedeutung des nichtsäkularen Ursprungs der Grundrechte, in: E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 43-73. Mit der Denkfigur des Gesellschaftsvertrags konnte John Locke (Two Treatises of Civil Government, 1689) diesen Gedanken systematisieren und die Menschenrechte als vorstaatlich der staatlichen Disposition entziehen. Es sei an dieser Stelle angefügt, daß A. Barak, Präsident des Obersten Gerichtshofes Israels, kürzlich in einer Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem zum Demokratieverständnis der israelischen Gesellschaft ausführte: "Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust haben gezeigt, daß eine Limitierung der Macht der Mehrheit von entscheidender Bedeutung ist und daß das Konzept 'Das tut man nicht' die formale Ausdrucksform 'Das ist verboten' erhalten muß"; vgl. A. Barak, Formale und substantielle Demokratie, in: Bulletin der Hebräischen Universität Herbst 1999, (5-8) 6.

[5] Vgl. F. Paepcke (Hg.), Le Coeur et ses Raisons Pensées, München, 3. Aufl. 1982, 38.

[6] Vgl. De iure naturae et gentium, 1672 (dt. 1759), II, 1, § 5.

[7] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. v. W. Weischedel, Werke IV, Darmstadt, 4. Aufl. 1975, 68.

[8] Vgl. E. Otto, Die Geburt des moralischen Bewußtseins. Die Ethik der Hebräischen Bibel, in: ders./S. Uhlig, Bibel und Christentum im Orient, Wiesbaden 1991, 63-87; ders., Recht und Gerechtigkeit. Die kulturhistorische Bedeutung alttestamentlicher Rechtsbegründungen für eine wertplurale Moderne, in: F. Hahn u.a. (Hg.), Zion – Ort der Begegnung. FS L. Klein OSB, Frankfurt/Main 1993, 63-83.

[9] Vgl. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 254f.258 (Lit.).

[10] Vgl. E. Otto, Human Rights: The Aftermath of the Hebrew Bible, Journal of Northwest Semitic Languages 15, 1999 (Hannes Olivier in Memoriam Vol.).

[11] Vgl. dazu C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/Main, 3. Aufl. 1995, 103-106.

[12] Vgl. J. Assmann, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994, 118-142.

[13] Vgl. J. Assmann, ebd., 60-85; s. ferner kritisch K. Koch, Sädaq und Ma'at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?, in: J. Assmann u.a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 37-64. Zur Vermittlung nahöstlicher Gerechtigkeitskonzeption in den hellenischen Horizont vgl. E. Flaig, Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in Hellas, ebd., 97-140.

[14] Vgl. J. Assmann, ebd., 85-91. Dieser die universale Macht des Staates begründenden Staatsideologie des ägyptischen Reiches entsprach eine negative Anthropologie, die, wie der "Mythos von der Himmelskuh" zeigt, den Menschen als rebellisches Wesen für alles Negative in der Welt verantwortlich macht; vgl. E. Hornung, Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh. Eine Ätiologie des Unvollkommenen, Fribourg/Göttingen 1982.

[15] Vgl. G. Ahn, Religiöse Herrscherlegitimation im achämenidischen Iran, Leiden 1992.

[16] Vgl. K. Koch, Weltordnung und Reichsidee im alten Iran und ihre Auswirkungen auf die Provinz Jehud, in: ders./P. Frei, Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich, Fribourg/Göttingen, 2. Aufl. 1996, 137ff.

[17] Vgl. C. Meier, Enstehung des Politischen (Anm. 11), 51ff.

[18] Vgl. C. Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München, 2. Aufl. 1995, 7ff.108ff.

[19] Zum Text vgl. A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, State Archives of Assyria III, Helsinki 1989, 26f.

[20] Sonnengott, der über die Durchsetzung von Gerechtigkeit wacht.

[21] Partnerin oder Tochter des Gottes Aššur, des assyrischen Nationalgottes.

[22] Sakkan war ein Rindergott.

[23] Stadtname.

[24] Für die Semantik der Begriffe ki(e)ttu(m) und mī(ē)šaru(m) vgl. E. Otto, Art. Recht/ Rechtstheologie/Rechtsphilosophie I. Recht und Rechtswesen im Alten Orient und im Alten Testament, Theol. Realenzyklopädie XXVIII, 1997, (197-209) 198f.

[25] Für Raum- und Gewichtsmaße vgl. Reallexikon der Assyriologie VII, 1990, 492ff.

[26] Vgl. zur Geschichte des Gottes Aššur G. van Driel, The Cult of Aššur, Assen 1969.

[27] In der Sanherib-Inschrift K. 6177+8869:14, der sog. "Tafel der Schicksalsbestimmungen", die mit der Thronbesteigung des Königs Sanherib verbunden ist, wird der assyrische König ebenfalls als "Repräsentant/Agent" des Gottes Aššur (xalam DAššur) bezeichnet; vgl. A.R. George, Sennacherib and the Tablet of Destinies, Iraq 48, 1986, 133-146; J.N. Lawson, The Concept of Fate in Ancient Mesopotamia of the First Millennium. Toward an Understanding of šīmtu, Wiesbaden 1994, 23-25; s. dazu jetzt die kritische Rezension von F. Rochberg-Halton in: Journ. of Near Eastern Studies 58, 1999, 54-58.

[28] Zur mesopotamischen Schöpfungstheologie, die die Erschaffung des Königs von der der Normalbürger abhebt, s.i.f.

[29] Zur Bedeutung des Lexems palû als "Königsjahr" vgl. H. Tadmor, History and Ideology in the Assyrian Royal Inscriptions, in: F.M. Fales (Hg.), Assyrian Royal Inscriptions. New Horizons in Literary, Ideological, and Historical Analysis, Rom 1981, (13-33) 19. Mit A.R. George (Destinies [Anm. 27], 137) ist hier auch mit der semantisch konservativen Bedeutung "Dynastie" zu rechnen, was bedeutet, daß auch das Dynastieprinzip zur Legitimation der Herrschaft eingebracht wird. Das allerdings wäre nur verhalten geschehen, da Assurbanipal gegen die Thronfolgeregelung als Nachgeborener auf den Thron kam; s. dazu i.f. zum Loyalitätseid Asarhaddons.

[30] Daß Sanherib sich in der "Tafel der Schicksalsbestimmungen" zusätzlich noch zur Legitimation seiner Herrschaft auf die Schicksalstafel beruft, mag damit zusammenhängen, daß sein Vater, Sargon II., im Krieg gefallen war, was als Ausdruck der Ablehnung durch die Götter interpretiert werden konnte, die Nachfolge also prekär war.

[31] Zu Text und Übersetzung vgl. M.E. Vogelzang, Bin Úar Dadmē, Groningen 1988, zur Interpretation auch J.N. Lawson, Fate (Anm. 27), 25-31.

[32] Vgl. W.G. Lambert, Ninurta Mythology in the Babylonian Epic of Creation, in: K. Hecker/W. Sommerfeld (Hg.), Keilschriftliche Literaturen. Ausgewählte Vorträge der XXXII. Rencontre Assyriologique Internationale, Berlin 1986, 55-60.

[33] Vgl. E. Otto, Zwischen Strafvernichtung und Toleranz. Kulturgeschichtliche Aspekte im Umgang des neuassyrischen Reiches mit dem besiegten Feind, in: O. Kraus (Hg.) "Vae victis". Über den Umgang mit dem besiegten Feind, Göttingen, 1998, 9-44; ders., Die besiegten Sieger. Von der Macht und Ohnmacht der Ideen in der Geschichte am Beispiel der neuassyrischen Großreichspolitik, Biblische Zeitschrift (N.F.) 43, 1999, 180-203.

[34] Vgl. zur assyrischen Expansionspolitik generell W. Mayer, Politik und Kriegskunst der Assyrer, Münster 1995. Zur Expansionspolitik im Westen vgl. R. Lamprichs, Die Westexpansion des neuassyrischen Reiches. Eine Strukturanalyse, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1995. Zur Beherrschung Ägyptens durch die assyrischen Könige Asarhaddon und Assurbanipal vgl. H.-U. Onasch, Die assyrischen Eroberungen Ägyptens, 2 Bde, Wiesbaden 1994.

[35] Vgl. B. Oded, War, Peace and Empire. Justifications for War in Assyrian Royal Inscriptions, Wiesbaden 1992.

[36] Daß es sich zumindest für den Krönungshymnus des Königs Assurbanipal dabei nicht um bloße Propaganda handelt, zeigt die Tatsache, daß die Thronbesteigung dieses Königs in eine Phase ökonomischer Prosperität des neuassyrischen Reiches auf dem Höhepunkt seiner Macht fiel; vgl. A. Livingstone, Poetry (Anm. 19), XXIII.

[37] Zur neuassyrischen Institution des königlichen Restitutionsaktes vgl. E. Otto, Programme der sozialen Gerechtigkeit. Die neuassyrische (an-)durāru-Institution sozialen Ausgleichs und das deuteronomische Erlaßjahr in Dtn 15, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 3, 1997, 26-63; ders., Soziale Restitution und Vertragsrecht. Mīšaru(m), (an-)durāru(m), kirenzi, para tarnumar, šemittā und derôr in Mesopotamien, Syrien, der Hebräischen Bibel und die Frage des Rechtstransfers im Alten Orient, in: Revue d’Assyriologie 92, 1998, 125-160.

[38] Vgl. dazu E. Otto, Die Applikation als Problem der politischen Hermeneutik, Zeitschrift für Theologie und Kirche 71, 1974, 145-181.

[39] Zum Text s. K. Watanabe, Die adê-Vereidigung anläßlich der Thronfolgeregelung Asarhaddons, Berlin 1987, 148; dies./S. Parpola, Neo-Assyrian Treaties and Loyalty Oaths, State Archives of Assyria II, Helsinki 1988, 28-58.

[40] Die Flüche in VTE §§ 37-56 bilden die Apodosen der Stipulationen als Protasen; vgl. E. Otto, Die Ursprünge der Bundestheologie im Alten Orient und im Alten Testament, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 4, 1998, (1-84) 39f.

[41] Der Loyalitätseid ist eine mesopotamisch nur neuassyrisch belegte Textgattung, die im Falle irregulärer Thronfolge wie der des Assurbanipal zur Anwendung kam und in den junghethitischen LÚ.MEÚSAGTexten ihren gattungsgeschichtlichen Ursprung hat; vgl. dazu F. Starke, Zur urkundlichen Charakterisierung neuassyrischer Treueide anhand einschlägiger hethitischer Texte des 13. Jh., Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 1, 1995, 70-82; ders., Zur "Regierung" des hethitischen Staates, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 2, 1996, 140-182.

[42] Zum Text s. K. Watanabe, Thronfolgeregelung (Anm. 39), 150.

[43] Vgl. W.R. Mayer, Ein Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs, Orientalia (N.S.) 56, 1987, 55-68 (= VS 24 Nr. 92); zur Interpretation im Vergleich mit biblischer Schöpfungstheologie vgl. H.P. Müller, Eine neue babylonische Menschenschöpfungserzählung im Licht keilschriftlicher und biblischer Parallelen – Zur Wirklichkeitsauffassung im Mythos, Orientalia (N.S.) 58, 1988, 61-85.

[44] Vgl. E. Otto, Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums im Horizont neuassyrischen Vertragsrechts, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 2, 1996, 1-52; ders., Bundestheologie (Anm. 40), 32-50.

[45] Zu Dtn 28 vgl. H.U. Steymans, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel, Fribourg/Göttingen 1995.

[46] Vgl. E. Otto, Treueid (Anm. 44), 43f.

[47] Zur literarkritischen Analyse vgl. E. Otto, Treueid (Anm. 44), 7-32.

[48] Vgl. E. Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreformen in Juda und Assyrien, Berlin/New York 1999.

[49] Vgl. N. Lohfink, Fortschreibung? Zur Technik von Rechtsrevisionen im deuteronomischen Bereich, erörtert an Deuteronomium 12, Ex 21,2-11 und Dtn 15,12-18, in: T. Veijola (Hg.), Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen, SESJ 62, Göttingen/Helsinki 1996, 127-171; B.M. Levinson, Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York 1997, 23-52; s. dazu E. Otto, Biblische Rechtsgeschichte als Fortschreibungsgeschichte, Bibliotheca orientalis 56, 1999, 5-11, sowie zur Rezeption des Bundesbuches im Deuteronomium ders., Vom Bundesbuch zum Deuteronomium. Die deuteronomische Redaktion in Dtn 12-26*, in: G. Braulik/W. Groß/S. McEvenue (Hg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. FS Norbert Lohfink, Freiburg/Br. 1993, 260-278; ders., The Pre-exilic Deuteronomy as a Revision of the Covenant Code, in: ders., Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte im Alten Orient und im Alten Testament, Wiesbaden 1996, 112-122; ders., Deuteronomium (Anm. 48).

[50] Vgl. E. Otto, Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftgeschichte des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des "Bundesbuches" Ex XX 22 – XXIII 13, Leiden/New York 1988, 54-56.

[51] Vgl. E. Otto, Bundestheologie (Anm. 40), 56-63.

[52] Vgl. S. Parpola, Assyrian Prophecies, State Archives of Assyria IV, Helsinki 1997 (ersch. 1998), 22-27.

[53] Vgl. S. Parpola, ebd., LXX. Zum historischen Kontext vgl. M. Nissinen, References to Prophecy in Neo-Assyrian Sources, Helsinki 1998, 14-34.

[54] Vgl. Z. Zevit, A Phoenician Inscription and Biblical Covenant Theology, IEJ 27, 1977, 110-118; E. Otto, Deuteronomium (Anm. 48).

[55] Das setzt voraus, daß der Loyalitätseid SAA II/6 noch als Autorität heischender Text galt, so daß die judäische Rezeption in die neuassyrische Zeit zwischen 672 und 612 v. Chr. zu datieren ist. Eine derartige Reaktion gegen den neuassyrischen Hegemonialanspruch war am ehesten in der Zeit des Königs Josia wahrscheinlich. Der Bürgerkrieg Assurbanipals mit seinem Bruder, die Nachfolgestreitigkeiten nach dem Tode Assurbanipals, der Aufstand des Sin-šum-lišur (627 v. Chr.) und ein weiterer Versuch der Usurpation der Macht im Westen 613 v. Chr. mußten das neuassyrische Paradigma der Herrschaftslegitimation obsolet erscheinen lassen.

[56] Die deuteronomistische Theologie der Exilszeit hat deshalb in Dtn 7,2 ein generelles "Bundesschlußverbot" mit den "Landesbewohnern" entwickelt, und die nachexilische Pentateuchredaktion hat dies in Ex 34,12.15 noch ausgebaut, da jeder Bund dieser Art fremden Göttern die Ehre geben würde.

[57] Vgl. E. Otto, Rechtsreformen in Deuteronomium XII-XXVI und im Mittelassyrischen Kodex der Tafel A (KAV 1), in: J.A. Emerton (Hg.) Congress Volume Paris 1992, Supplements to Vetus Testamentum 61, Leiden/New York 1995, 239-273.

[58] Vgl. dazu N. Lohfink, Die Sicherung der Wirksamkeit des Gotteswortes durch das Prinzip der Schriftlichkeit der Tora und durch das Prinzip der Gewaltenteilung nach den Ämtergesetzen des Buches Deuteronomium (Dt 16,18-18,22), in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen LiteraturI, Stuttgart 1990, 305- 323; U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde. Studien zu Dt 16,18- 18,22, Frankfurt/Main 1987; E. Otto, Von der Gerichtsordnung zum Verfassungsentwurf. Deuteronomische Gestaltung und deuteronomistische Interpretation im "Ämtergesetz" Dtn 16,18-18,22, in: I. Kottsieper u.a. (Hg.), "Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?" Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels. FS O. Kaiser, Göttingen 1994, 142-155.

[59] Vgl. E. Otto, Ethik (Anm. 12), 193-196; ferner L. Perlitt, Der Staatsgedanke im Deuteronomium, in: S.E. Balentine/J. Barton (Hg.), Language, Theology, and the Bible. FS J. Barr, Oxford 1994, 182-198.

[60] Nur dort, wo eine ganze Stadt nicht der Anstiftung zur Rebellion gegen JHWH, sondern der vollendeten gemeinschaftlich begangenen Apostasie schuldig ist (Dtn 13,13-19), schlägt nach deuteronomistischer Theorie, die das Neue Israel nach dem Exil von den Verehrern fremder Götter abgrenzen will, noch der in der neuassyrischen Vorlage verwurzelte Gewaltaspekt in Gestalt des Banngebots durch; vgl. dazu C. Schäfer-Lichtenberger, Bedeutung und Funktion von Herem in biblisch-hebräischen Texten, Biblische Zeitschrift (N.F.) 38, 1994, 270-275. Daß in der nachexilischen Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel derartige Abgrenzungskonzepte, die die Identität "Israels" durch Abgrenzungsstrategien sichern wollen, nicht unbestritten waren, sondern Position in einem heftigen Dialog, zeigen die nachexilischen Novellen wie die der Bücher Ruth oder Jona; vgl. dazu den Überblick von O. Kaiser, Die Ausländer und die Fremden im Alten Testament, Jahrbuch der Religionspädagogik 14, 1997, 65-83.

[61] Vgl. A. Barak, Demokratie (Anm. 4), 6. Die Hebräische Bibel kennt zwar noch keinen Begriff für "Freiheit". Erst in rabbinischer Literatur ist mit 2erût ein terminologisches Äquivalent zu finden. Doch werden die Freiheitsrechte als Abwehrrechte in der frühen Neuzeit nicht ohne die Vorgabe der Hebräischen Bibel denkbar. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Auszugsüberlieferung zu verweisen. Die Befreiung aus der "Knechtschaft" des ägyptischen Staates (Ex 5) läßt ebenfalls auf die Einschränkung staatlicher Macht durch den Willen Gottes reflektieren; vgl. dazu H.D. Preuß, "Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit". Der Beitrag des Alten Testaments zu den sogenannten "Menschenrechten", Neuendettelsau 1989 (Selbstverlag), 8f.

[62] Vgl. Cicero, De off. I 106; s. dazu W. Huber, Gerechtigkeit (Anm. 9), 227f.; ders., Art. Menschenrechte/Menschenwürde, Theol. Realenzyklopädie XXII, 1992, (577- 602) 578 (Lit.).

[63] Vgl. auch G. Pettinato, Das altorientalische Menschenbild und die sumerischen und akkadischen Schöpfungsmythen, Heidelberg 1971, 44ff.; H.M. Kümmel, Bemerkungen zu altorientalischen Berichten von der Menschenschöpfung, Welt des Orients 7, 1973, 25-38.

[64] Vgl. E. Hornung, Himmelskuh (Anm. 14).

[65] Vgl. M. Görg, Der Mensch als königliches Kind nach Ps 8,3, Biblische Notizen 3, 1977, 7-13.

[66] Vgl. J. Assmann, Liturgische Lieder an den Sonnengott, Berlin 1969, 494.

[67] Vgl. dazu E. Otto, Schöpfung als Kategorie der Vermittlung von Gott und Welt in Biblischer Theologie, in: H.-G. Geyer u.a. (Hg.), Wenn nicht jetzt, wann dann? FS H.J. Kraus, Neukirchen-Vluyn 1984, 53-68; ders., Ethik (Anm. 12), 92-94.

[68] Vgl. zur Forschungsgeschichte dieses Motivs B. Janowski, Art. Gottebenbildlichkeit I. Altes Testament und Judentum, Religion in Geschichte und Gegenwart 3, 4. Aufl. 2000, 1159f.

[69] Vgl. dazu K. Koch, Gestaltet die Erde, doch hegt das Leben! Einige Klarstellungen zum dominium terrae, in: H.-G. Geyer (Hg.), FS Kraus (Anm. 67), 53-68; B. Janowski, Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26-28 und die Semantik von rdh, in: G. Braulik u.a. (Hg.), FS N. Lohfink (Anm. 49), 183-198.

[70] Vgl. Ambrosius, De dignitate conditionis humanae, MPL XVII, 1105ff.

[71] Zur religions- und literarhistorischen Einordnung der nachpriesterschriftlichen Paradieserzählung in Gen 2-3 vgl. E. Otto, Die Paradieserzählung Genesis 2-3: Eine nachpriesterschriftliche Lehrerzählung in ihrem religionshistorischen Kontext, in: A. Diesel u.a. (Hg.), "Jedes Ding hat seine Zeit ...". Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit. FS D. Michel, Berlin/New York 1996, 167-192.

[72] Vgl. den Nachweis durch D. Michel, Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet, Berlin/New York 1989, 92-100.

[73] Zu den Beziehungen zwischen Qohelet und Ben Sira vgl. J. Marböck, Zwischen Kohelet und Sirach, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997, 303-325.

[74] Vgl. dazu E. Otto, Woher weiß der Mensch um Gut und Böse? Philosophische Annäherungen der ägyptischen und biblischen Weisheit an ein Grundproblem der Ethik, in: S. Beyerle/G. Maier/H. Strauß (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament – Gestalt und Wirkung, Festschrift für H. Seebaß, Neukirchen- Vluyn 1999, 207-231.

[75] Vgl. zum weisheitlichen Einfluß auf Gen 2-3 auch L. Alonso-Schökel, Motivos sapienciales y de alianza en Gn 2-3, Biblica 43, 1962, 295-316; G.E. Mendenhall, The Shady Side of Wisdom: The Date and Purpose of Genesis 3, in: H.N. Bream u.a. (Hg.), A Light unto My Path. FS J.M. Myers, Philadelphia 1974, (319-334) 328f.; J. Blenkinsopp, The Pentateuch, New York 1992, 65; C.M. Carmichael, The Paradise Myth: Interpreting without Jewish and Christian Spectacles, in: P. Morris/D. Sawyer (Hg.), A Walk in the Garden: Biblical, Iconographical, and Literary Sources of Eden, Sheffield 1992, (47-63) 50-54; E. Otto, Paradieserzählung (Anm. 71), 173-178.

[76] Daß es bei der "Erkenntnis von Gut und Böse" um die moralische Urteilsfähigkeit geht, wird durch die erweiterte Fassung in Jes 7,15 "bis er weiß, das Böse zu verwerfen und das Gute zu erwählen" deutlich.

[77] Vgl. auch Ez 28,11-19 als traditionsgeschichtliche Vorlage für Gen 3. Die dem Autor von Ez 28 vorgegebene Überlieferung wußte von einem urzeitlichen König zu erzählen, der von wunderbarer Schönheit aufgrund seiner Hybris vom Götterberg vertrieben wurde. Diese Erzählung dürfte in der weisheitlichen Königs- und Herrschaftskritik entstanden sein (vgl. E. Otto, Ethik [Anm. 12], 159) und sich gegen eine Differenzierung zwischen Schöpfung des Königs und der übrigen Menschheit wenden.

[78] Dieser Aspekt wird in Gen 3 durch die Interpretation von Tora-Motiven insbesondere aus deuteronomisch-deuteronomistischem Überlieferungsbereich zum Ausdruck gebracht; vgl. für den Nachweis E. Otto, Paradieserzählung (Anm. 71), 178ff.

[79] Die Rezeptionsgeschichte der Paradieserzählung, die einseitig im Horizont der Erbsündenlehre die Flüche in Gen 3,14-19 zum Schlüssel der Interpretation gemacht hat, übersieht den in Gen 2 entfalteten Aspekt der Schöpfungsintention Gottes im Umgang der Geschlechter miteinander und im Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur. Diese Aspekte werden noch dadurch unterstrichen, daß in Gen 2,7.18-24 eine überlieferungsgeschichtlich ursprünglich selbständige Schöpfungserzählung aufgenommen wurde, die nicht den Aspekt der Reduktion durch die Flüche kannte und gegen die vorliegende Paradieserzählung in ihrem theologischen Gehalt auch zur Sprache zu bringen ist; vgl. E. Otto, Ethik (Anm. 12), 61-64.

[80] Von der Gnosis bis zu Kant und Hegel ist die Paradieserzählung zu Recht als Aufklärungserzählung interpretiert worden. Sie lebt von der theologischen Dynamik des sich selbst zurücknehmenden Gottes.

[81] Vgl. dazu zusammenfassend N. Lohfink, Option für the Poor. The Basic Principle of Liberation Theology in the Light of the Bible, Berkeley 1986; ders., Poverty and the Laws of the Ancient Near East and of the Bible, Theological Studies 52, 1991, 34-50 (dt. in: ders., Studien zur biblischen Theologie, Stuttgart 193, 239-259). Zur Wirtschaftsethik der Hebräischen Bibel vgl. E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: ders., Kontinuum (Anm. 49), 331-341.

[82] Vgl. den Überblick von J. Ebach, Art. Arbeit II. Biblisch, Religion in Geschichte und Gegenwart I, 41998, 678-680 (Lit.).

[83] Vgl. R. Albertz, Die Kulturarbeit im Atram2asīs-Epos im Vergleich zur biblischen Urgeschichte, in: ders. u.a. (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments, FS C. Westermann, Göttingen/Neukirchen-Vluyn 1980, 38-57.

[84] Zum Interaktionsverhältnis von prophetischer Kritik und Gebotsüberlieferungen vgl. E. Otto, Ethik (Anm. 12), 104-111.

[85] Vgl. dazu E. Otto, Art. Bundesbuch, Religion in Geschichte und Gegenwart I, 4. Aufl. 1998, 1876-1877.

[86] Vgl. E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte in der Ausdifferenzierung eines altisraelitischen Ethos aus dem Recht, in: ders., Kontinuum (Anm. 49), 94-111; ders., Wandel (Anm. 50), 34-51.69-75, sowie auch den Überblick von J. Ebach, Art. Armenfürsorge II. Altes Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart I, 4. Aufl. 1998, 755-756.

[87] Vgl. B. Halpern, Jerusalem and the Lineages in the seventh Century BCE. Kinship and the Rise of Individual Moral Liability, in: ders./D.W. Hobson (Hg.), Law and Ideology in Monarchic Israel, Sheffield 1991, 11-107; ders., Sybil, or the Two Nations? Archaism, Kinship, Alienation, and the Elite Redifinition of Traditional Culture in Juda in the 8th- 7th Centuries BCE, in: J.S. Cooper/G.M. Schwartz (Hg.), The Study of the Ancient Near East in the Twenty-First Century. The William Foxwell Albright Centennial Conference, Winona Lake 1996, 291-338.

[88] Vgl. S. Stohlmann, The Judean Exile after 701 BCE, in: W.W. Hallo u.a. (Hg.), Scripture in Context II: More Essays on the Comparative Method, Winona Lake 1993, 147-175. Zum Schicksal Jerusalems unter Hiskia vgl. E. Otto, Jerusalem. Die Geschichte der Heiligen Stadt von den Anfängen bis zur Kreuzfahrerzeit, Stuttgart 1980, 69-74.

[89] Zu den Freiheitsrechten der Frauen im deuteronomischen Reformprogramm vgl. G. Braulik, Die Ablehnung der Göttin Aschera in Israel. War sie erst deuteronomistisch, diente sie der Unterdrückung der Frauen?, in: ders., Studien zum Buch Deuteronomium II, Stuttgart 1997, 812-118; ders., Durften Frauen in Israel opfern? Beobachtungen zur Sinn- und Festgestalt des Opfers im Deuteronomium, Liturgisches Jahrbuch 48, 1998, 222-248; E. Otto, False Weights in the Scales of Biblical Justice? Different Views of Women from Patriarchal Hierarchy to Religious Equality in the Book of Deuteronomy, in: V.H. Matthews u.a. (Hg.), Gender and Law in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, Sheffield 1998, 126-146.

[90] Vgl. E. Otto, Deuteronomium (Anm. 48).

[91] Vgl. G. Braulik, Die Freude des Festes. Das Kultverständnis des Deuteronomiums – die älteste Festtheorie, in: ders., Studien zur Theologie des Deuteronomiums I, Stuttgart 1988, 161-218; N. Lohfink, Opferzentralisation, Säkularisierungsthese und mimetische Theorie, in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III, Stuttgart 1995, 219-260.

[92] Vgl. E. Otto, Soziale Verantwortung und Reinheit des Lands. Zur Redaktion der kasuistischen Rechtssätze in Deuteronomium 19-25, in: ders., Kontinuum (Anm. 49), 123-138. Zum "Bruderethos" vgl. auch ferner L. Perlitt, "Ein einzig Volk von Brüdern". Zur deuteronomischen Herkunft der biblischen Bezeichnung "Bruder", in: ders., Deuteronomium-Studien, Tübingen 1994, 50-73.; H.-J. Fabry, Deuteronomium 15. Gedanken zur Geschwisterethik im Alten Testament, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 3, 1997, 92-111, sowie H.D. Preuß, Freiheit (Anm. 61), 13f.

[93] Vgl. E. Otto, Soziale Gerechtigkeit (Anm. 37), 26-63; ders., Restitution (Anm. 37); s. dort auch die Klauseln der neuassyrischen Vertragstexte im Wortlaut.

[94] Vgl. dazu J.M. Hamilton, Social Justice and Deuteronomy 15, Atlanta 1992; M. Oosthuizen, Deuteronomy 15,1-18 in Socio-Rhetorical Perspective, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 3, 1997, 64-91.

[95] Vgl. W. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot in Torah, Mišnah und Talmud, Wiesbaden 1977, 55f.; R. Yaron, Introduction to the Law of the Aramaic Papyri, Oxford 1961, 93ff.; K. Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer, Göttingen 1984, 306f. (Wādi Muraba'at).

[96] Vgl. Matth. 25,14-30; Luk 19,11-28 u.ö.

[97] Vgl. E. Klingenberg, Zinsverbot (Anm. 95), 87-102.

[98] Vgl. E. Otto, Gerechtigkeit und Erbarmen im Recht des Alten Testaments und seiner christlichen Rezeption, in: ders., Kontinuum (Anm. 49), 342-357 (wieder abgedruckt in J. Assmann [Hg.], Gerechtigkeit [Anm. 13], 79-95); ders., Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart I, 4. Aufl. 1998, 1517-1528.

[99] Vgl. T. Koch, Menschenwürde als das Menschenrecht – Zur Grundlegung eines theologischen Begriffs des Rechts, Zeitschrift für Evangelische Ethik 35, 1991, (96-112) 105, der zu Recht feststellt, daß unvorstellbar viel erreicht wäre, wenn international auch nur ein Existenzminimum, das vor dem Hungertod bewahrt, garantiert werden könnte.

[100] Vgl. dazu R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: ders., Recht – Moral – Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt/Main 1981, (106-145) 127.

[101] Vgl. zu dieser Losung aus der Ökumene H. Simon, "Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben". Beiträge zu einer ökumenischen Rechtstheologie, Ökumenische Rundschau 16, 1967, 338-357.

[102] Vgl. dazu M.J. Seux, Épithètes royales akkadiennes et sumériennes, Paris 1967, 33ff.

[103] Vgl. E. Otto, Krieg und Religion im Alten Orient und im alten Israel, in: ders., Kontinuum (Anm. 49), (49-58) 52-54; ders., "Er setzt den Kriegen ein Ende". Impulse der Religionen für eine Friedensordnung und ihre Widerstände im Alten Orient und in der Hebräischen Bibel, Stuttgart 1999.

[104] Vgl. A.K. Grayson, Assyrian Rulers of the Third and Second Millennium BC, Toronto 1987, 9:21.

[105] Der Jagderfolg wude semantisch nicht vom Sieg im Kampf unterschieden. Die wilden Tiere waren wie die Feinde als Repräsentanten des schöpfungswidrigen Chaos dem König überantwortet mit dem Auftrag, sie zu jagen; vgl. nur A.K. Grayson, Assyrian Royal Inscriptions II, Wiesbaden 1976, 369.

[106] Vgl. U. Magen, Assyrische Königsdarstellungen. Aspekte der Herrschaft, Mainz 1986, 3.29-36; Tafel 1-4.

[107] Vgl. E. Otto, Ethik (Anm. 12), 108-111.

[108] Zum rechtlichen Hintergrund vgl. P. Bovati, Re-establishing Justice. Legal Terms, Concepts and Procedures in the Hebrew Bible, Sheffield 1994, 30-166 (s. dazu aber auch die Rezension des Verf. in der Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 1, 1995, 296-303).

[109] Vgl. dazu E. Otto, Art. Jakob I. Altes Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart 4, 4. Aufl. 2001, 352-354.

[110] Damit interpretiert der Prophet Hosea die Erzählung Gen 25,19-25 sehr eigenwillig. Zur Intention von Gen 25,19-25 vgl. E. Otto, Jakob in Sichem. Überlieferungsgeschichtliche, archäologische und territorialgeschichtliche Studien zur Entstehungsgeschichte Israels, Stuttgart 1979, 24-35.

[111] Vgl. dazu auch die Auslegung von J. Jeremias, Der Prophet Hosea, Göttingen 1983, 112-119; ders., Die Reue Gottes. Aspekte altttestamentlicher Gottesvorstellung, Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. 1997, 52-59. Hos 11,10f. ist ein durch Stichwortverbindungen zusammengebundener Zusatz der nachexilischen Zeit, der seine nächsten Parallelen in Joel 4,6 sowie Jes 60,8 hat und das ursprüngliche Motiv der Strafaufhebung angesichts des Exils als Strafmilderung interpretiert.

[112] Die Konjekturen des masoretischen Textes sind gekennzeichnet.

[113] Zu Hos 11,5b.6b. als Zusätze vgl. J. Jeremias, Hosea (Anm. 111), 143 – anders T. Naumann, Hoseas Erben. Strukturen der Nachinterpretation im Buch Hosea, Stuttgart 1991, 92-96.

[114] Kanaanäische Gottheit.

[115] Adma und Zeboim sind Städte bei Sodom und Gomorrha.

[116] Vgl. SAA IX/2.5:26. S. dazu S. Parpola, Prophecies (Anm. 52), XXXVI-XLIV.

[117] Vgl. SAA IX/1.6:15 u.ö.

[118] Vgl. SAA IX/2.5:29. s. dazu S. Parpola, Prophecies (Anm. 52), IC Anm. 65.

[119] Vgl. auch M. Nissinen, Prophetie, Redaktion und Forschreibung im Hoseabuch. Studien zum Werdegang eines Prophetenbuches im Lichte von Hos 4 und 11, Kevelaer-Neukirchen-Vluyn 1991, 280-294. Die Einwände von G. Eidevall (Grapes in the Desert. Metaphors, Models, and Themes in Hosea 4-14, Stockholm 1996, 175f.) sind nicht durchschlagend.

[120] Zur Abgrenzung des Mitleidens vom "Mitleid" vgl. K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985, 65ff.

[121] J. Jeremias (Reue [Anm. 112], 54) stellt zu Recht fest, daß nihumîm mit "Reue" keinesfalls genau erfaßt sei, und versteht darunter "die Kraft, die JHWHs Zorn nicht zur Entfaltung kommen läßt". Zur Konnotation der Identifikation im Lexem nhm vgl. H. Simion-Yofre, Art. nhm, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament V, 1986, (366-384) 370.

[122] Vgl. F.-L. Hoßfeld, Wie sprechen die Heiligen Schriften, insbesondere das Alte Testament, von der Vorsehung Gottes?, in: Th. Schneider/L. Ulrich (Hg.), Vorsehung und Handeln Gottes, 1988, (72-93) 79.

[123] Vgl. dazu E. Otto, "Impleta est haec scriptura" – Erwägungen zum Problem einer christologischen Interpretation des Alten Testaments, in: K. Kodalle (Hg.), Die Gegenwart des Absoluten. Philosophischtheologische Diskurse zur Christologie, Gütersloh 1984, 156-162.

[124] Wenn C. von Clausewitz (Vom Kriege. Nachdruck der Erstauflage 1832-34, Frankfurt/Main 1980, 18ff.) allein aus der Begrenztheit der ökonomischen Ressourcen von Konfliktparteien eine Begrenzung der in der Logik der Wechselwirkungen unbegrenzten Spirale von Rüstung und Gegenrüstung, Gewalt und Gegengewalt sieht, so wird hier ein anderes Modell, das im Neuen Testament aufgenommen wurde, angeboten. Die Feststellung, "nie kann in die Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden, ohne eine Absurdität zu begehen" (ebd., 18), ist durch die Entwicklung des Völkerrechts überholt – durch eine Entwicklung, die in die Rezeptionsgeschichte des christlichen und des jüdischen Kanons der Heiligen Schrift gehört; vgl. dazu auch Verf., Friedensordnung (Anm. 103).

[125] Vgl. dazu G. Barbiero, L’asino del nemico. Renuncia alla vendetta e aurore del nemico nella legislazione dell’Antico Testamento (Es 23,4-5; Dt 22,1-4; Lv 19,17-18), Rom 1991.

[126] Vgl. J. Jeremias, Hoseas Einfluß auf das Jeremiabuch, in: ders., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekaprophetons, Tübingen 1996, 122-141. Zu den Konfessionen vgl. als noch immer lesenswert die Münchener Dissertation von N. Ittmann, Die Konfessionen Jeremias, Neukirchen-Vluyn 1981.

[127] Vgl. K. Baltzer, Art. Gottesknecht, Religion in Geschichte und Gegenwart 3, 4. Aufl. 2000, 1224-1226.

[128] Zu ihrer Auslegungsgeschichte vgl. jetzt H.D. Betz, The Sermon on the Mount, Minneapolis 1995, 1-88 (Lit.); U. Berner, Art. Bergpredigt II. Auslegungsgeschichtlich, Religion in Geschichte und Gegenwart I, 4. Aufl. 1998, 1311-1314 (Lit.).

[129] Vgl. dazu E. Otto, Die besiegten Sieger (Anm. 33).

 


Prof. Dr. Eckart Otto, München
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